Alter Speicher, neu formatiert
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Das Wort „Speicher“ hat in der digitalisierten Gegenwart eine rasante Karriere als Metapher gemacht: Immer, wenn über das Erinnern oder Aufbewahren gesprochen wird, ist die Rede vom Speicher – sogar das Gehirn wird zur Festplatte, auf der etwas abgespeichert werden soll. Analoge Einrichtungen wie Archive, Museen und Bibliotheken firmieren als „Wissensspeicher“, um sprachlich auf der Höhe der Zeit zu sein. Die „Mediathek André Malraux“ in Straßburg kann dieses Label mit Fug und Recht für sich beanspruchen: Die Institution residiert in einem von den Architekten Ibos Vitart umgebauten Getreidespeicher, in spektakulärer Insellage auf einem Kai im ehemaligen Industriehafen.
Jean-Marc Ibos und Myrto Vitart verfolgten beim Umbau des langgestreckten Baus am Wasser zwei verschiedene Strategien: Zum einen erhielten sie den industriellen Charakter des Speichergebäudes aus den dreißiger Jahren, beispielsweise beim majestätischen Kopfbau am westlichen Ende, einem ehemaligen Silo. Zum anderen nahmen sie massive Eingriffe in die Substanz vor, um das Haus als Bibliothek nutzbar zu machen. Etwa bei dem sich an das Silo anschließenden Lagergebäude, dessen Ziegelfassade komplett entfernt und durch zweischalige Glasfronten ersetzt wurde. Zudem stockten die Architekten diesen Teil um drei Geschosse auf. An das Lagerhaus ist im Osten ein neuer Gebäudeteil angesetzt, der die Kubatur des mittleren Teils zwar fortführt, durch seine Wellblechfassade jedoch abgeschlossen und wie ein modernes Pendant zum Siloturm wirkt. Mit diesem dreiteiligen Konzept konnten die ehemaligen Partner von Jean Nouvel 2003 den Wettbewerb um die Mediathek, die sowohl Bücher als auch neue Medien sammelt, für sich entscheiden.
Dramatisches Atrium
Der Haupteingang zur Mediathek liegt im Kopfbau an der Spitze des Hafenkais und ist durch Brücken von den umliegenden Quartieren aus zu erreichen. Von dort gelangen die Besucher zunächst in das Atrium im Inneren des Silos, einem schachtartigen und sieben Geschosse hohen, dramatischen Raum. Darauf folgt der Übergang zum Mittelteil, dem ehemaligen Lager, in dem sich im Erdgeschoss der Informationstresen, die Cafeteria, ein Ausstellungs- sowie ein Vortragssaal hintereinander aufreihen.
Offenes Raumkontinuum
Die öffentlichen Bereiche der Bibliothek wie Leseplätze und Freihandbereiche sind auf den Etagen des Mittelteils und im Siloturm untergebracht und in ein offenes Raumkontinuum eingebettet. Der offene Raum erstreckt sich jeweils über die ganze Fläche der Etage, nur unterbrochen von einem Erschließungskern mit Treppen und Fahrstühlen. Im neuen Gebäudeteil mit der Wellblechfassade sind dagegen vor allem bibliotheksinterne Nutzungen wie Mitarbeiterbüros, Technik und das Magazin mit Platz für zwölf Regalkilometer Bücher zu finden.
Roh und industriell
Die Innenräume im öffentlich zugänglichen Bereich der Mediathek beeindrucken mit ihrem industriellen Charakter, denn die ursprünglichen, rohen Betonoberflächen der Wände, Decken und massiven Pfeiler sind sichtbar gelassen worden. Unter den Decken liegen offen und perfekt ausgerichtet die technischen Installationen wie Beleuchtung und Lüftung, während die Raumproportionen des historischen Speichers vor allem durch die recht niedrigen Decken und die relativ breiten Etagen gekennzeichnet sind. Dank der komplett verglasten Fassaden fällt trotzdem relativ viel Licht in das Innere der Bibliotheksräume. An einigen Stellen ließen die Architekten Geschossdecken herausreißen, um mit höheren Räumen eine gewisse Weite zu schaffen.
Leitfäden und Textbruchstücke
Wie im Außenbau, so haben sich die Architekten Ibos Vitart auch im Inneren dafür entschieden, dem industriellen Charakter des Speichers eine zeitgenössische Komponente entgegenzusetzen. Rote Farbbänder ziehen sich wie Leitfäden durch das ganze Gebäude, beginnend auf dem Fußboden am Eingang. Sie erstrecken sich auch über Pfeiler, Wände und Decken und setzen poppige Akzente auf dem rohen Beton. Zudem legen sich sowohl außen auf der Fassade als auch in den Innenräumen Textbruchstücke auf die Oberflächen: Der Schweizer Designer Ruedi Baur hat gemeinsam mit den Mitarbeitern der Mediathek literarische Textpassagen ausgewählt und über das Gebäude verteilt. Teilweise dienen die Worte auch der besseren Orientierung, wenn sie etwa auf bestimmte Abteilungen der Bibliothek hinweisen. Teilweise sind sie vor allem dekorativ und sollen dem Haus eine visuelle Identität verleihen.
Schicke Möbel für eine Million
Ungewöhnlich für eine öffentliche Bibliothek ist das Möblierungskonzept: Daran wurde offensichtlich nicht gespart, denn die Nutzer können sich über eine ansehnliche Sammlung von Designklassikern und zeitgenössischen Stücken freuen. Sie können zum Arbeiten auf Stühlen von Jasper Morrison, Maarten Van Severen und Arne Jacobsen, auf Hockern von Nendo und an Tischen von USM Haller und Vitra Platz nehmen. Für die entspanntere Lektüre bieten sich der „Coconut Chair“ von George Nelson, der „Ball Chair“ von Eero Aarnio oder der Sessel „Up“ von Gaetano Pesce an. Die schicken Möbel schlugen mit rund einer Millionen Euro zu Buche, bei Gesamtkosten für das Projekt von rund 36 Millionen Euro.
Die Straßburger Mediathek ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie ein analoger Speicher aus dem Industriezeitalter neu formatiert werden kann für eine Nutzung des Informationszeitalters und dabei gestalterisch Vergangenheit wie Gegenwart gleichermaßen zu ihrem Recht kommen.
FOTOGRAFIE Georges Fessy
Georges Fessy
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