Das Unvollendete
Inside-Out-Architektur in Australien: Ein Einfamilienhaus stülpt sich fließend in den Garten.
Jeder kennt die Faszination eines unfertigen Gebäudes: Vielleicht ist es sogar der spannendste Moment in der Existenz eines Hauses, wenn es nur ein fragmentarisches Gerüst ist, das noch mit Gedanken und Träumen gefüllt werden kann. Fertig gestellt, verlieren Bauten oftmals diese Qualität. In einer kleinen australischen Gemeinde hat sich ein Bauherrenpaar ganz bewusst etwas Unvollendetes gewünscht – und auch bekommen.
Cut Paw Paw ist der Name der Gemeinde, in der das Baugrundstück liegt. Der gefiel sowohl den Bauherren Derek und Michelle, die sich dort ein Eigenheim bauen lassen wollten, als auch dem Architektenteam von Andrew Maynard so gut, dass die Bezeichnung zum Titel ihres Projekts wurde. Und irgendwie zum roten Faden dieser ziemlich guten Baugeschichte.
Auf ausdrücklichen Wunsch
Das alte Haus sieht von der Straße aus betrachtet unscheinbar aus und reiht sich vordergründig in seine Nachbarschaft ein. Erst wenn man durch die Eingangstür tritt, entfaltet sich das Gebäude Schritt für Schritt in all seinen ungewöhnlichen Facetten. „Die Bauherren wünschten sich ausdrücklich ein Haus, dessen Inneres nach außen gestülpt wird“, erklärt der Architekt Andrew Maynard die Entwurfsidee für das Sanierungsprojekt. „Als Antwort darauf entwickelten wir ein Eigenheim, das auf eine befreiende Art und Weise unvollendet ist“. Was das genau bedeutet, erschließt sich, nachdem man durch den Hauptflur des Altbaus geschritten ist und in den Anbau tritt – eine sich konisch zuspitzende Hütte aus Holz und verzinktem Stahlblech.
Völlig aufgelöst
Dem Besucher eröffnet sich eine ungewöhnliche Wohnwelt, die die Grenzen zwischen Architektur und Natur auflöst – und zwar scheibchenweise. Der Altbau mit den Schlafräumen ist vom ersten Teil der Erweiterung nur durch eine Glastür getrennt: Die neue Offenheit lässt sich hier schon erahnen. Passiert man die Schiebetür, gelangt man in die lang gestreckte Küche sowie ein Ess- und ein Loungebereich. Sämtliche Einbauten sind aus Holz gefertigt und stehen frei im Raum: Alles im Cut Paw Paw scheint beweglich. In der Küche stehen zwar noch Wände, aber der Raum lässt sich über Schiebetüren nach außen hin öffnen, wenn es das Wetter zulässt. Die Verschränkung erfolgt aber nicht nur von innen nach außen: Die an der Längsseite verlaufende Gartenmauer aus Ziegelsteinen wird von der Grundstücksabgrenzung zur innen liegenden Rückwand.
Aber erst beim zentralen Segment des Hauses wird es so richtig interessant: Das Volumen bleibt zwar erkennbar, allerdings nur aufgrund der fortlaufenden Stahlrahmenkonstruktion samt besagter Gartenmauer. Die Abdeckung aus verzinkten Platten fängt an sich aufzulösen und die Bodenplatte verschwindet gänzlich und wird durch Gras ersetzt. Dass es sich hier nicht nur um einen patioartigen Außenbereich handelt, belegt die freistehende Badewanne. Sie wird zum Inbegriff der Inside-Out-Architektur. Ein Nassbereich umgeben von der Natur, aber auch mitten in ihr. Am Ende der Anlage befindet sich noch ein Musikstudio, ein Wunsch der Bauherren und ebenfalls als freistehendes Holzobjekt realisiert. Cut Paw Paw ist Neubau und Ruine, Garten und Haus, draußen und drinnen – und ein Architekturexperiment, das allen Beteiligten sichtbar Spaß gemacht hat.
FOTOGRAFIE Peter Bennetts
Peter Bennetts