Durchdachtes Experiment
Ein Haus wie ein Wintergarten von Studio Velocity
Kann die Natur die Architektur ersetzen, zumindest ein Stück weit? Dieser Frage gingen die Architekten des japanischen Studio Velocity nach, als sie ein Familienhaus in einer üppig begrünten Wohnsiedlung entwarfen. Sie entwickelten ein Konzept aus lockeren Raumformationen, verglasten Wänden und einer Vielzahl schräg platzierter Dächer, das gleichsam Privatsphäre wie schier endlose Blickbeziehungen ermöglicht. Kurzum: ein luftig-leichtes Wohnexperiment, das viel mit einem Wintergarten gemein hat. Und bei dem die Natur eine tragende Rolle spielt.
Es gibt Architekturbüros mit unverkennbaren Handschriften. Studio Velocity ist eines davon. Ihre Gebäude sind Statements mit radikal neuen, bisweilen ungesehenen Kubaturen, die Grundrisse mal rund, mal rhombisch, mal unregelmäßig strukturiert. Auch wenn es um die Interaktion mit der Natur oder ungewöhnliche Stilbrüche geht, beweisen die beiden Architekten Miho Iwatsuki und Kentaro Kunhura Kreativität. Ein architektonisches Element aber beherrschen beide Japaner besonders: die Gestaltung des Daches.
Ein Stück Natur
Ihre Dächer sind in sich gedreht, gebogen, rund, schräg, perforiert, dreidimensional überformt oder mit der Wand vereint. Es scheint, als suchten Miho Iwatsuki und Kentaro Kunhura bei jedem neuen Projekt eine bisher ungesehene, radikale Lösung. So auch hier: Für ein asymmetrisch geformtes Grundstück in der Präfektur Aichi entwarfen die Architekten ein Einfamilienhaus, das aus zwölf miteinander verbundenen Pavillons besteht. Für ihre Überdachung schufen sie einzelne Flächen, die sie schräg und sich überlappend anordneten und den Bau, von oben betrachtet, leicht und florierend erscheinen lässt.
Dabei war es keineswegs eine Vogelperspektive, die die Planer für den Entwurf einnahmen. Ihr Ausgangspunkt bildeten Fauna und Topografie. Eine alte, schmal und diagonal verlaufende Straße markiert das Areal der Wohngegend und sorgt für einen Flickenteppich unregelmäßig geformter Bauplätze, die vielerorts von Zäunen und Hecken begrenzt werden. Auch um das Grundstück der Bauherren zieht sich ein dichter Saum aus hohem, dichtem Blattwerk. „Wir fragten uns, wie man eine Beziehung zur räumlichen Komposition schaffen könne“, sagen die Architekten, die sich die Natur geschickt zu Nutze machten.
Grünes Licht
Sie beschlossen, die gesamte Wohnfläche auf einer Ebene unterzubringen. „So übernehmen die Hecken die Funktion eines Sichtschutzes, die normalerweise von einer Außenwand kommt“, erklären sie. Das erlaubt es, fast die gesamte äußere Hülle des Gebäudes zu verglasen. Nur wenige Bereiche bekamen opake weiße Wände. Öffentlichere Zonen wie Wohn-, Ess- oder Musikzimmer legten die Planer zentral an und hielten auch hier die Strukturen weitestgehend transparent.
Als Tragwerk dienen Holzbalken, auf denen die Dächer aufliegen. In unterschiedliche Richtungen geneigt, fügt sich der Bau dadurch natürlich in seine Umgebung ein. Und auch im Inneren erzielten die Architekten durch die schrägen Decken mit zum Teil ungewöhnliche Höhen eine Verbindung mit dem Umraum: „Hecken und Kernwände sorgen für Privatsphäre, erlauben aber auch die Aussicht bis unterhalb des Daches, wodurch die Präsenz des Gebäudes reduziert wird.“
Leben an der Lichtung
Umsäumt wird das Interior von Terrassen und Wintergärten, die sich optisch kaum vom Wohnbereich unterscheiden. Eine Wirkung, die durch eine Vielzahl von Topfpflanzen unterstützt wird. Durch diese Staffelung aus offenen und geschlossenen Räumen, Holzbalken und dem vielen Grün entsteht ein Vexierspiel, das die Grenzen zwischen Garten und Gebäude optisch auflöst.
Lediglich die Bugholzstühle und -bänke definieren den Wohnraum. Ein gestalterischer Kniff, der bei Studio Velocity nicht überrascht, kommen die traditionsreichen Kaffeehausmöbel in ihren Projekten doch immer wieder vor. Vor dem organisch-konstruktiven Kontext dieses Hauses schaffen ihre ornamentalen Lehnen einen formellen Kontrast. Der jedoch zieht sich einheitlich durch den gesamten Wohnraum. Subtile Unterschiede ergeben sich eher aus der Natur selbst. „Durch den großen, zergliederten Schnitt“, erklären Miho Iwatsuki und Kentaro Kunhura , „werden die unterschiedlichen Umgebungen innerhalb des Geländes fühlbar.“
FOTOGRAFIE Studio Velocity
Studio Velocity