Ein offenes Haus
Feministischer Wohnblock Illa Glòries von Cierto Estudio in Barcelona
Architektur schafft nicht nur Lebensräume, sondern prägt auch das soziale Gefüge und gestaltet das Miteinander von morgen. Das Projekt „Illa Glòries“ des Kollektivs Cierto Estudio zeigt, wie durch gleichwertige Grundrisse und gemeinschaftliche Strukturen neue Formen des Zusammenlebens entstehen können – inklusiv, solidarisch und als Modellprojekt für die Zukunft.
Kann ein Gebäudeensemble feministisch sein, zur Auflösung traditioneller Rollenbilder beitragen und die Gleichberechtigung aller Geschlechter fördern? Sechs Frauen aus Barcelona haben sich vorgenommen, die Aufgabe der Architektur neu und zukunftsorientiert zu definieren, indem sie Räume für lebendige, inklusive und resiliente Gemeinschaften schaffen.
2014 gründeten die Architektinnen Marta Benedicto, Ivet Gasol, Carlota de Gispert, Anna Llonch, Lucia Millet und Clara Vidal ihr Studio Cierto, dessen Name sich mit „sicher“ oder „zutreffend“ übersetzen lässt. Ebenso zutreffend beantworteten sie die Anforderungen eines internationalen Wettbewerbs für das Wohnblock-Ensemble Illa Glòries, der 2017 ausgeschrieben wurde. Das Baugrundstück liegt zwischen Barcelonas Technologieviertel 22@ in Poblenou und dem historischen Stadtteil Eixample. Im Rahmen eines größeren Stadterneuerungsplans sollte dort erschwinglicher und zugleich anpassungsfähiger Wohnraum geschaffen werden.
Für alle, mit allen
Wie in vielen anderen Metropolen ist auch in Barcelona der Wohnungsmarkt stark angespannt, was zu deutlich steigenden Preisen führt. Mit dem Projekt Illa Glòries, das von einer städtischen Entwicklungsgesellschaft initiiert wurde, soll dieser akuten Not begegnet werden. Das Ensemble umfasst 238 Wohnungen und schafft als Sozialprojekt bezahlbaren Lebensraum für rund 800 Personen. Die vier Bauabschnitte A, B, C und D wurden unterschiedlichen Planungsbüros übertragen und bilden auf einem Block zwei Baukörper mit jeweils zwei Höfen sowie einer zentralen Durchgangsfläche.
51 Wohnungen gehören zum von Cierto Estudio entworfenen Gebäudeteil A – und alle vier Häuser folgen dem Prinzip der „Corrala“. Diese traditionelle spanische Wohnungsbautypologie war im 19. Jahrhundert vor allem in Städten wie Madrid oder Sevilla verbreitet und richtete sich an die arbeitende Bevölkerung. Durch halböffentliche Freiflächen und Funktionsräume wird die Architektur eine Einladung für ein kollektives Miteinander und gegenseitige Hilfe.
Keine häuslichen Stereotype
An der äußeren Struktur lässt sich auch die innere Strategie des Blocks ablesen: Die Wohnungen sind über Laubengänge und gemeinschaftlich nutzbare Balkone erschlossen. So begegnen sich Nachbar*innen nicht nur auf dem Weg zu und aus ihren Einheiten, sondern auch in der Freizeit. Das Studio Cierto möchte damit den allgemeinen sozialen Zusammenhalt stärken und zugleich gezielt ein für Frauen optimiertes Umfeld schaffen. Regelmäßige Begegnungen und erhöhte Sichtbarkeit bedeuten mehr Sicherheit und verringern durch das geschützte, sozial kontrollierte Umfeld das Risiko geschlechtsspezifischer Gewalt.
Auch die Höfe sind zwar funktional vom Stadtraum abgetrennt, bleiben jedoch über Sichtachsen visuell mit der Straße verbunden. Zusätzlich wurden dort Gemeinschaftsräume für die Betreuung von Kindern und älteren Menschen eingerichtet. Im besten Fall entsteht durch die offene Architektur und ihre gemeinschaftlichen Angebote ein inklusives Umfeld, in dem Bewohner*innen einander unterstützen und häusliche sowie pflegerische Aufgaben gemeinsam tragen. Diese besondere Gender-Perspektive und die Berücksichtigung unterschiedlicher Familienmodelle durch die Planerinnen von Cierto Estudio spiegeln sich auch in den Grundrissen wider.
Gleichwertige Räume
Als „hierarchiefreies Wohnen“ beschreiben die Architektinnen ihr Layout. Jede Wohnung setzt sich aus mehreren gleich großen Zimmern zusammen und basiert auf einer Formation von zwei mal zwei Quadraten. In das unbelichtete Zentrum wurden das Badezimmer und der Verbindungsflur als fensterloser Kern gestellt, der um 45 Grad gedreht geometrisch aus dem Raster fällt. In diagonaler Ausrichtung wurde mit der Küche ein weiterer gekippter Raum wie ein „Systemsprenger“ platziert. Dazu kommen ein kleines Raumquadrat mit der Diele und ein weiteres mit einer Loggia.
Durch die gleichberechtigte Aufteilung der Quadratmeter auf die Zimmer gibt es keine funktional vordefinierten Zonen, wie ein zentrales Wohnzimmer oder eine abgeschirmte Küche. Stattdessen können die Bewohner*innen flexibel und bedürfnisorientiert über ihre Nutzung entscheiden. „Wir sind unglaublich stolz auf das Projekt Illa Glòries“, sagt das Architektinnen-Team. „Es repräsentiert ein neues Modell des städtischen Wohnens, das Gemeinschaft, Nachhaltigkeit und das Wohlergehen seiner Bewohnerinnen und Bewohner in den Mittelpunkt stellt. Wir glauben, dass dieses Projekt als Inspiration für zukünftige Wohnprojekte in Barcelona und darüber hinaus dienen wird“.
FOTOGRAFIE Jose Hevia, Marta Vidal
Jose Hevia, Marta Vidal
| Projektname | The Room Community – Illa Glòries |
| Entwurf | Cierto Estudio |
| Auftraggeber | Institut Municipal de l’Habitatge i Rehabilitació de Barcelona (IMHAB) |
| Landschaftsarchitektur | Beatriz Borque + Miquel Mariné |
Entwurf
Cierto Estudio
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