Ein widerständiges Haus
Renovierung und Anbau von Reichwald Schultz in Hamburg

Welcher Akteure bedarf es, damit ein verkanntes architektonisches Juwel seine Ausstrahlung zurückerhält? Im Falle eines Hamburger Siedlungshauses waren es mutige Bauherr*innen und konsequente Architekt*innen. Durchhaltevermögen haben beide Seiten bewiesen. Das Gebäude aus dem Jahre 1933 wurde nicht nur um eine Gartenremise ergänzt. Auch der Bestandsbau wurde wieder in Wert gesetzt – und so konnte die Geschichte eines besonderen Hauses fortgeschrieben werden.
Klinker-Riemchen in Cappuccino-Beige. Damit hatte einer der Vorbesitzer – es könnte auch eine Vorbesitzerin gewesen sein – das Siedlungshaus im Hamburger Stadtteil Hummelsbüttel verkleidet. Und zwar zu einer Zeit, als Backsteinfassaden nicht in Mode waren und Fenster mit einer Teilung erst recht nicht. Als die neuen Besitzer*innen 2020 die Riemchen abstemmen ließen, offenbarte sich der tatsächliche Beschaffenheit der Außenhülle. Ein „wirklich erbärmlicher Zustand“, wie Peter-Karsten Schultz vom Hamburger Büro Reichwald Schultz erzählt. Die Fassade war stark beschädigt, der Dachstuhl von Wurmbefall und vom Hausbock gezeichnet. Zugleich aber hatte Schultz in den Bauakten eine echte Entdeckung gemacht: Der Bau darf als Zeugnis einer „Architektur des Widerstands“ gelten. Der Hamburger Architekt Alex Ram hatte 1933 einen Bauantrag für ein Haus mit expressivem Spitztonnendach gestellt. Nur galt diese Dachform bei den eben an die Macht gekommenen Nationalsozialisten wohl als „nichtarisch“ – und so sagte man Ram, er möge das Haus doch mit einem „ordentlichen deutschen Satteldach“ planen. Alex Ram aber blieb standhaft und trat den Gang durch die Instanzen an, bis er schlussendlich die Genehmigung für die ursprünglich entworfene Form erhielt.
Quergestellt und ebenbürtig
Dieses Dach auch bei der Sanierung zu erhalten, wurde zur obersten Priorität – sowohl bei den Architekt*innen als auch bei der Bauherrschaft. Und das, obwohl der Dachstuhl marode war und der gesamte Dachaufbau ersetzt werden musste, inklusive temporärer Abstützung der Giebelwände. Der Neubau des Daches wurde mit rundbogengefrästem Furnierschichtholz konstruiert. Dass die eher ungewöhnliche Dachform auch als Vorlage für die formal-ästhetische Herleitung des benötigten Anbaus dienen würde, war hingegen nicht von Anfang an klar. Über mehrere Entwürfe, zum Beispiel mit einem Kubus, arbeiteten sich die Architekt*innen an diese Form heran. Auch hier muss man ihr Durchhaltevermögen würdigen, bekommt der quer zum Bestand aufgestellte Neubau doch dank dieser Form die Kraft, mit dem Haupthaus als ebenbürtiges Volumen in einen Dialog zu treten. Die Fassade ist mit leicht silbrig vorbewitterter Lärche beplankt, das Dach mit vorgebogenem und vorbewittertem Titanzink gedeckt. Das Raster der Lärchenplanken passte perfekt zu den Öffnungen, kein Brett musste geschnitten werden. In der Gartenremise untergebracht sind nun eine Wohnküche sowie, sanft davon abgetrennt, ein Salon mit Kamin. Damit wird der Anbau, der über einen kurzen Verbindungsgang an das Haupthaus angeschlossen ist, zum eigentlichen Zentrum des Familienalltags.
Ausgelagertes Herz
Dorthin gelangt man über den Haupteingang, gelegen im bauzeitlichen Kapitänserker auf der Westseite des Hauses, der in einen kleinen Flur und anschließend – über vier Stufen – in den Wohnbereich mündet. Oder man benutzt in der warmen Jahreszeit den direkten Zugang über den neu entstandenen Süd-West-Hof, wo bodentiefe Fenster den Eintritt in die Küche erlauben. Von dort aus überblicken die Bewohner*innen auch den Innenhof und sehen ankommende Gäste, während sie selbst in der Küche Vorbereitungen treffen. „Diese Gartenremise ist das ausgelagerte Herz des Hauses“, resümiert Peter-Karsten Schultz. Insgesamt hat das Innere des neu angebauten Wohn-Ess-Bereichs eine fast sakrale Wirkung. Das liegt auch an der zurückhaltenden und zugleich starken Inszenierung des bis 5,50 Meter hohen Spitztonnengewölbes, das lediglich verputzt und mit einem leicht grau-blau abgetönten Weiß gestrichen wurde. Die großzügige Belichtung des Anbaus aus allen vier Himmelsrichtungen sorgt für wechselnde Stimmungen, je nach Tages- oder Jahreszeit.
Aufwendige Details
Im Erdgeschoss des Bestandsbaus haben nun die Eltern einen eigenen Rückzugsraum mit Ankleidezimmer und En-Suite-Bad. Außerdem befindet sich dort ein kleiner Bereich für Gäste. Im gesamten Bestandsbau gab es schon vorher Pitch-Pine-Dielen, die mit recyceltem Material repariert wurden. Der Aufwand, der in die Details dieses Hauses floss, ist überall ablesbar. Das erste Obergeschoss und den jetzt nutzbaren Spitzboden hat man für die beiden Kinder der Familie reserviert. Nach ganz oben führt eine eigens dafür gestaltete Sambatreppe aus Eiche mit weiß lackierten Setzstufen, die zwischen zwei Sparren Platz finden musste. Dank dieser Konstruktion wird es trotz der beengten Raumverhältnisse möglich, den Bereich unter dem bis zu 2,30 Meter hohen Tonnendach zu erreichen. Lediglich beim Zugang sind die Raumverhältnisse beengt – ein genau dort installiertes Dachfenster sorgt aber für etwas mehr Platz beim Auf- und Abstieg und noch dazu für mehr Licht im Treppenhaus des Obergeschosses.
FOTOGRAFIE Marcus Ebener
Marcus Ebener
Projektname | Haus R Hamburg |
Bauherrschaft | privat |
Entwurf | Reichwald Schultz Architekten |
Standort | Hamburg-Hummelsbüttel |
Fertigstellung | Oktober 2020 |
Brutto-Geschossfläche | 265 Quadratmeter |
Kubikmeter umbauter Raum | 1.017 Kubikmeter |
Fassade Altbau | Keim |
Dachdeckung Altbau | Nelskamp |
Fassade Neubau | Mocopinus |
Dachdeckung Neubau | Rheinzink |
Furnierschichtholz-Bogenbinger Alt- und Neubau | Steico |
Fenster Alt- und Neubau | Serie Berliner Warmfenster, Fecon |
Heizung | Viessmann |
Elektro | Schalterprogramm E2, Gira |
Sanitärkeramik | Serie Happy, Duravit |
Armaturen | Serie Essence, Grohe |
Küchenoberflächen | Egger |
Küchengeräte | Siemens |
Gewölbestrahler Neubau | one piece 9, Mawa |
Barhocker, Gartenbank | Hay |
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