Flugrouten für Vögel
The Veranda House von Studio Espaazo in Ahmedabad

Drinnen oder draußen? Studio Espaazo aus Indien macht diese Frage überflüssig. Bei einem Wochenendhaus in Ahmedabad sind die Raumgrenzen durchlässig. Luft und Blicke können ebenso passieren wie gefiederte Tiere. Architektur und Innenraum erklären die Natur zur Verbündeten.
Typologien sind dazu da, herausgefordert zu werden. Im indischen Ahmedabad entstand ein Wochenendhaus, das ein wesentliches Element der tropischen und subtropischen Architektur ins Visier nimmt: die Veranda. Der Bauherr trat an das Studio Espaazo mit dem Wunsch heran, den überdachten Außenbereich neu zu interpretieren. Vor allem eine traditionelle Konstruktion aus Holzbalken war ihm ein Dorn im Auge. Er wünschte sich eine ausgeprägtere Identität – auf struktureller und visueller Ebene gleichermaßen. Die Veranda sollte nicht als Anhang zu einem Gebäude verstanden werden. Sie sollte mit ihm verschmelzen.
Organische Übergänge
Und so ersannen die Architekt*innen ein frei stehendes Dach mit exponierter Haltung. Es folgt sanften Kurven, die in der Draufsicht an eine Amöbe denken lassen. Runde Stützen heben den Sonnen- und Regenschutz 3,66 Meter über den Boden. Der Übergang von der Vertikalen zur Horizontalen erfolgt mit organischem Schwung. Die Elemente sind nicht additiv verbunden, sondern gehen fließend ineinander über, als wären sie auf natürliche Weise gewachsen. „Der Auftraggeber hatte den Wunsch geäußert, die gebaute Umwelt mit der natürlichen Umgebung zu verflechten“, erklärt Smeet Kaswala, der Studio Espaazo zusammen mit Avishi Jariwala 2020 in Ahmedabad gegründet hat.
Multiple Ebenen
Die geschwungenen Konturen des Daches finden Widerklang in einer Bodenplattform, die gegenüber dem Straßenlevel sowie dem Innenhof angehoben wurde. Indem der Sockel leicht auskragt, erzeugt er die Illusion, als würde das Gebäude über dem Boden schweben. Die erhöhte Position der Plattform sorgt für eine klar lesbare Gliederung der Außenbereiche. Zudem reagiert sie auf klimatische Besonderheiten: Sie erschwert bodenaffinen Insekten und anderen Krabbeltieren den direkten Zugang zu den Innenräumen des eingeschossigen Hauses, das eine Fläche von rund 465 Quadratmetern bespielt.
Duales Prinzip
Der Höhensprung wird durch die Materialität verstärkt. Im Innenhof werden schmale Terrakotta-Fliesen verwendet, während für den Sockel Platten aus schwarzem Kadappa zum Einsatz kommen. Der aus Indien stammende Naturstein zeigt natürliche Farbvariationen und wird von starken Äderungen akzentuiert. Der Boden erhält dadurch eine lebendige, stetig wechselnde Wirkung. Er verbindet die überdachten Außenbereiche mit den Innenräumen. Diese unterteilen sich in zwei gläserne Kuben, die in sicherem Abstand voneinander auf der Plattform ruhen. Ein Volumen nimmt das private Schlafzimmer auf. Im anderen Volumen werden die halböffentlichen Funktionen Wohnen, Essen und Kochen gebündelt.
Gebaute Veränderlichkeit
„Die Fenster geben die Blicke auf üppig begrünte Außenbereiche frei. Wenn man die Glastüren öffnet, entsteht ein nahtloser Übergang zwischen innen und außen“, sagt Avishi Jariwala. Runde Aussparungen im Dach lassen Lichtkreise über den Boden der Plattform wandern, die ihre Position mit dem Stand der Sonne stetig verändern. Unterhalb der Aussparungen sind runde Pflanzenschalen in die Plattform eingelassen, die mit hellen Kieselsteinen ausgelegt sind. In ihnen wachsen Frangipani-Bäume mit kräftigem Blattwerk, die durch die Deckenöffnungen vom Regen bewässert werden.
Atmosphärisches Nass
Auch in der Mitte des Innenhofes haben die Architekt*innen weitere Pflanzen platziert: Eine Gruppe von Palmen wird von kleineren Topfpflanzen mit roten Blüten umringt. Direkt daneben steht ein Esstisch mit einer ziegelverkleideten Platte. Er wird rückseitig vom Swimmingpool eingefasst, der fast die gesamte Breite des Hofes einnimmt. Das Becken ist nicht in den Boden eingelassen, sondern erhöht. Dadurch musste kaum Erdreich abgetragen werden. Zugleich behalten die Schwimmenden den Überblick – sie sind in das Geschehen auf der Terrasse und Veranda auf Augenhöhe involviert.
Natürliche Abkühlung
Die Innenseite des Beckens ist mit hell- und dunkelblauen Fliesen ausgekleidet, deren Muster unregelmäßig changiert. Sie geben dem Wasser einen Farbton, der mit dem Himmel korrespondiert. An der Außenseite des Beckens läuft das Wasser über schwarze, leicht schräg gestellte Steinplatten hinab. Deren geriffelte Oberflächen verstärken das Geräusch des Plätscherns. Auch nimmt die Verdunstung damit zu. Auf diese Weise entsteht ein natürlicher Abkühlungseffekt, weil Wasser beim Übergang vom flüssigen in den dampfförmigen Aggregatzustand der Umgebungsluft Wärme entzieht.
Aktivierung der Wände
Auf der gegenüberliegenden Seite des Esstisches schließt sich der überdachte Wohnbereich mit Küche und einem weiteren Esstisch an. Bei allzu großer Hitze können die Schiebetüren geschlossen und die Klimaanlage aktiviert werden. Avishi Jariwala, die bei Studio Espaazo das Interiordesign leitet, hat den Wohnräumen ein hellblaues Thema gegeben. Die Farbe wird bei den Bezügen der Sofas und Sessel im Wohnzimmer ebenso aufgegriffen wie bei den Sitzflächen der Stühle, die den Esstisch umrunden. Ein heller, freundlicher Ton, der zu den dunklen Natursteinfliesen ebenso gut passt wie zu den leicht rotstichigen Hölzern der Möbel. „Wandmalereien zeigen Darstellungen indischer Vogelarten, die zu verschiedenen Tageszeiten ins Haus fliegen und das Gefühl vermitteln, sich im Schoß der Natur zu befinden“, erklärt die Innenarchitektin. Die Neudefinition der Veranda scheint damit geglückt.
FOTOGRAFIE MK Gandhi studio
MK Gandhi studio
Projektname | The Veranda House |
Typologie | Wochenendhaus |
Entwurf | Studio Espaazo |
Leitende Architekt*innen | Smeet Kaswala, Avishi Jariwala |
Ort | Ahmedabad, Gujarat, Indien |
Bebaute Fläche (brutto) | 465 Quadratmeter |
Fertigstellung | 2022 |
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