Holz am Hut
Kostengünstige Konstruktion, radikale Öffnung: Wohnhaus in Japan.
Kleine Budgets können große Wirkung haben: Dass diese Regel nicht nur eine hohle Phrase ist, beweist dieses Einfamilienhaus in der japanischen Kleinstadt Engaru. Zwar wurde es mit wenig Geld errichtet – dennoch beeindruckt es durch seine eigenwillige Konstruktion aus gestapelten Holzbalken, die ihm sein markantes Äußeres verleihen. Aber nicht nur in der Form weiß der Neubau zu gefallen, auch sein Inneres glänzt: mit maximalem Freiraum für die Bewohner.
Der Name der Stadt, die in der nördlichsten aller japanischen Regionen, Hokkaido, liegt, bedeutet übersetzt „Aussichtspunkt“. Kein Wunder, liegt der Ort doch inmitten einer traumhaften Landschaft umringt von bewaldeten Bergen. Der Architekt Jun Igarashi hat den Bewohnern mit dem Projekt Hat H ihren ganz persönlichen Aussichtsposten gebaut: mit Rundumblick auf Stadt und Natur.
Radikale Öffnung
Der freistehende, zweistöckige Neubau befindet sich am Rand von Engaru und fällt sofort auf: Wie eine hölzerne Skulptur thront das Haus in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem künstlich aufgeschütteten Wall und öffnet sich, typisch japanisch, auf radikale Weise zum Außenraum. Dabei wurde die Gestaltung maßgeblich durch das schmale Budget und die lokalen Bauregularien bestimmt, die ein mindestens 90 Zentimeter tiefes Fundament verlangen. Jun Igarashi entschied sich für eine kostengünstige Holzkonstruktion, bei der die Balken offen verlegt werden. Wie ein Steckspiel wurden die Bohlen übereinander geschichtet und formen so eine beeindruckende Konstruktion. Auf die Spitze getrieben wird das Gefüge durch die umlaufende Terrasse und das Dach, die beide weit auskragen. Zusammen mit der Symmetrie des Gebäudes bekommt Hat H so fast ein menschliches Antlitz.
Suburbane Wohnbühne
Der Architekt nutzte die Baurichtlinien auf eine spielerische Art und grub das untere Geschoss genau um diesen Wert in die Erde hinein. In dieser etwas zurückgezogener liegenden Etage brachte Igarashi die Wohnbereiche unter, die nach Ruhe und Intimsphäre verlangen: Bad, Schlafzimmer, Bibliothek und Arbeitsplätze. Das zwei Meter darüber schwebende Geschoss verfügt über die gleiche Wohnfläche, nur dass sie um eine umlaufende, 1,80 Meter auskragende Terrasse ergänzt wurde. Hier befindet sich der großzügige Wohn- und Essraum der Hat H, der sich vollständig zu seinem städtischen Umfeld orientiert und so eine suburbane Wohnbühne kreiert. Öffnen die Bewohner die Fassade aus Fenstertüren, addieren sie den Außen- zum Innenbereich hinzu: Die Bezeichnung „Aussichtspunkt“ ist in diesem Fall fast schon eine Untertreibung.
Schützender Schirm
Der Architekt ließ die Holzkonstruktion vollkommen offen: Balken, Bretter und aussteifende Stahlseile bilden ein dreidimensionales Konstrukt, das bei Bedarf fast vollständig wieder in seine Einzelteile zerlegt werden kann. Einzig ein paar Schrauben müssten hierfür gelöst werden. Aber den Höhepunkt dieses einmaligen Gefüges stellt das Dach dar. Wie ein flacher Hut sitzt es auf Hat H und schützt das Gebäudeinnere – egal ob bei starker Sonneneinstrahlung oder Regen. Die Bewohner können ihre Fenster sorglos bei fast jedem Wetter offen lassen: Ein Hut braucht halt vier Ecken.
FOTOGRAFIE Sergio Pirrone
Sergio Pirrone