In den Wind gebaut
Wohnhaus auf Formentera von Marià Castelló
Formentera ist die kleinste der Baleareninseln und scheint – schon weil sie keinen Flughafen hat – ziemlich weit entfernt zu sein vom Rest von Europa. Von der nächsten Architekturfakultät trennen die Insel zwei Fährverbindungen und eine zehnstündige Reise. 2002 machte Marià Castelló dort seinen Abschluss und war damit der erste einheimische Architekt auf Formentera. Seither holt er mit viel Feingefühl die lokalen Bautraditionen ins Heute – wie zum Beispiel bei der Planung eines Wohnhauses im kargen Zentrum der Insel.
Baukultur kommt nicht von ungefähr. Zwar können Architekturtraditionen große Kraft entwickeln, aber der Internationalismus kann ihnen auch stark zusetzen. Und so ist vieles, was in den letzten Jahren auf der Baleareninsel neu entstanden ist, nicht wirklich ortstypisch, sondern einfach im weitesten Sinne mediterran. Der Architekt Marià Castelló, der auf der Insel geboren und aufgewachsen ist, geht einen anderen Weg: Er analysiert regionale Bautraditionen bis ins Detail und interpretiert sie auf zeitgemäße Art.
Gegebenheiten des Ortes
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dominierten auf Formentera bescheidene Häuser mit streng rechtwinkligem Zuschnitt und Flachdach. Diesen Haustyp nahm Marià Castelló zum Ausgangspunkt, als er für ein junges Paar aus einer befreundeten Familie ein Wohnhaus entwerfen sollte. Wie so oft auf Formentera lag das mehr als 15.000 Quadratmeter große Grundstück weit entfernt von der nächsten Siedlung. Die Platzierung des Neubaus wurde so gewählt, dass die landwirtschaftliche Tätigkeit – unter anderem Weizen- und Haferanbau – auf dem Gelände weiterhin uneingeschränkt möglich ist und die Feigen- und Mandelbäume den Neubau außerdem vor zu viel Nachmittagssonne schützen können. Die Ausrichtung des Hauses nach Süden leitet sich ebenfalls von den Gegebenheiten vor Ort ab. Es liegt parallel zu einer historischen Natursteinmauer, die sich über mehr als einen Kilometer durch die karge Landschaft zieht.
Drei Volumen
Das sehr bescheidene Raumprogramm wurde auf mehrere Volumen aufgeteilt. So entstanden drei unterschiedlich große Elemente, die sich aufgrund ihrer Kleinteiligkeit gut in die Landschaft einfügen. Von Süden kommend, liegt zuvorderst eine überdachte Terrasse, die im Sommer Schatten bietet und im Winter von der tief stehenden Sonne erwärmt wird. Dahinter befindet sich der eher öffentliche Teil des Hauses mit Wohnraum und Küche. Im dritten und nördlichsten Teil sind zwei Schlafzimmer untergebracht.
Natürliche Farbpalette
Von der Terrasse – auf Formentera ebenfalls ein traditionelles architektonisches Element – ergeben sich interessante Blicke durch das gesamte Haus auf die umliegenden Hafer- und Weizenfelder. Für die Innenausstattung orientierte sich Marià Castelló an den sanften, warmen Farben der Umgebung. So bestehen die roh belassenen Kappendecken aus Terrakotta-Elementen und die Böden wurden mit Terrakotta-Platten belegt. Das Grün der umliegenden Vegetation findet einen Widerhall in den Wandfliesen der Bäder. Es bringt eine frische Note und strahlt eine gewisse Kühle aus. Die Farben der verwendeten Hölzer, zum Beispiel in der Küche, antworten auf die warmen Töne, die sich in der Nachbarschaft finden.
Wandelnde Lichtspiele
Der sensible Umgang mit der Natur – über die sich die Formenterer sehr stark selbst definieren – ist bei diesem Projekt allgegenwärtig. Die Naturverbundenheit drückt sich auch im Umgang mit vorhandenen Ressourcen aus. Wo die Volumen aufeinandertreffen, verbinden Verglasungen mit Schatten spendende Holzelemente die einzelnen Hausteile. Weil diese Verbindungselemente nach innen eingerückt sind, bleiben die drei Volumen weiter gut als solche erkennbar. Und die verglasten Übergänge bringen Licht und Luft ins Haus. Sie lassen sich öffnen und sorgen, weil sie an den vorherrschenden Winden ausgerichtet sind, für die Möglichkeit einer dosierten Querlüftung. Die Verschattungen sind in geometrischen Formen aus Holz gearbeitet und schaffen ein sich ständig wandelndes Lichtspiel. Der Verschnitt der Terrakotta-Platten wurde vor Ort belassen und geschreddert, daraus entstand die Kiesschüttung für die Flachdächer. Eine eigene Zisterne versorgt das Haus mit Trinkwasser. Ihre Plattform dient im Winter als Sonnenterrasse.
Lokale Möblierung
Die Möbelauswahl stammt ebenfalls von Marià Castelló. Er entschied sich für eine Kombination aus klassischen Stücken: Handwerklich gefertigte Holzstühle mit einer Sitzfläche aus Bastgeflecht treffen auf den Sessel Torres Clavé, den der Architekt Josep Torres Clavé 1934 für den spanischen Pavillon der Internationalen Weltausstellung in Paris von 1937 entwarf. Ergänzt wurde diese Auswahl mit einigen Möbeln, die Castelló speziell für dieses Projekt gestaltet und im eigenen Studio hergestellt hat. Dazu gehören Leuchten für das Terrakotta-Betthaupt in den Schlafzimmern, die spielerisch die lokale Baukultur aufnehmen und Teil eines künstlerischen Rechercheprojektes sind. Zusätzlich finden sich im Haus noch einige Tische, die der Architekt zusammen mit seiner Büropartnerin Lorena Ruzafa für das spanische Label Diabla Outdoor gestaltet hat.
FOTOGRAFIE Marià Castelló
Marià Castelló
Bauherrschaft | Privat |
Typologie | Neubau |
Ort | Formentera, Spanien |
Entwurf | Marià Castelló Martínez |
Designteam | Lorena Ruzafa, Marga Ferrer |
Mitarbeiter*in | Maria Tur Riera |
Visualisierung | Lorena Ruzafa |
Fläche | 70 Quadratmeter + 24 Quadratmeter Terrasse |
Fertigstellung | 2021 |