Inside-Out in Brasilien
Schwebende Villa in den Hügeln von Rio de Janeiro
Innen oder außen? Die Frage erübrigt sich bei diesem Wohnhaus, das Olson Kundig aus Seattle am Zuckerhut in Brasilien errichtet haben: Eine Ode an die Natur – und die physische Erfahrung von gebautem Raum durch pure Muskelkraft.
Hightech mag durchaus sinnvoll sein. Doch mitten in der Natur? Ein wahrer Verfechter des Analogen ist der Architekt Tom Kundig. Seit 1986 führt der 65-Jährige zusammen mit Jim Olson (*1940) das Büro Olson Kundig, das sich vor allem mit privaten Wohnhäusern einen Namen gemacht hat. Aber nicht nur: In Berlin hat das Duo unter anderem die Kinderwelt ANOHA im Jüdischen Museum geplant – eine stilisierte Arche in Form eines hölzernen Rings. Klare Geometrien sind ein Markenzeichen des Büros aus Seattle – ebenso wie ein unverkennbares Faible für die Natur.
Schwebendes Volumen
Wie diese Dinge zusammenkommen, zeigt ein Wohnprojekt in der Nähe des Tijuca Nationalparks in Brasilien. „Dieses Haus ist ein privater, intimer Ort in den Hügeln oberhalb von Rio de Janeiro. Das Gebäude schwebt als Plattform über dem Boden, auf der das Besitzerpaar die Landschaft genießen kann“, erklärt Tom Kundig. Sämtliche Innenräume sind in einem eingeschossigen Volumen aus Stahl und Glas angeordnet, das mithilfe zweier Betonpfeiler über den Boden angehoben wurde. Um einer vorzeitigen Korrosion entgegenzuwirken, wurden die Träger aus einer speziellen Metalllegierung gefertigt, die sowohl gegen Feuchtigkeit als auch gegen Salzluft resistent ist.
Unterhalb des schwebenden Volumens entstand ein überdachter Außenraum, der sich wiederum durch eine Bodenplatte aus Beton von den umliegenden Rasenflächen abhebt. Weder Wände, Schiebetüren, Fenster noch Vorhänge schirmen diesen Bereich von der Natur ab. Der südliche Betonpfeiler ragt weit über das leicht ausgestellte Metalldach in die Höhe. Schließlich erfüllt er nicht nur eine tragende Rolle für die Statik, sondern nimmt zwei Kamine sowie deren Schornsteine auf.
Mechanische Tarnkappe
Der Grundriss des 139 Quadratmeter großen Baus folgt einer klaren Logik: Im Erdgeschoss reiht sich vor dem Kamin eine Gruppe hölzerner Sessel um einen kubischen Beistelltisch. Ein um 90 Grad gedrehtes Sofa komplettiert die Sitzgruppe. Dahinter folgt mit etwas Abstand ein großer Esstisch und dahinter eine offene Küche. Sie kann hinter einer Blendwand aus Metall mit angewinkelten Seitenflächen versteckt werden. Ungewöhnlich ist die Position dieser architektonischen Tarnkappe: Während die Küche in Benutzung ist, wird das Metallelement unter die Decke geklappt und verschwindet buchstäblich aus dem Blickfeld. Wird die Verblendung mithilfe einer Schwungmechanik von Muskelkraft nach unten bewegt, schließt sie bündig mit dem dahinter liegenden Betonpfeiler ab – und die Küche ist unsichtbar.
Wie die Besatzung eines U-Bootes
Im hinteren, nach Norden ausgerichteten Bereich des Obergeschosses ist das Schlafzimmer untergebracht. Die Stirnseite definiert eine geschlossene Wand, an deren Innenseite das Kopfteil des Bettes sowie ein raumhohes Regal lehnt. Im nach Süden rundum verglasten Wohnbereich wiederholt sich das Möbellayout des Erdgeschosses. Hinter dem Kamin: zwei Holzsessel, dann ein Sofa, ein Esstisch und eine Küche. Die bodentiefen Fenster lassen die Trennung zwischen innen und außen vergessen. Weil Stromausfälle in der Gegend immer wieder an der Tagesordnung sind, haben die Architekten manuell bedienbare Kettenantriebe installiert. Mit ihrer Hilfe können auch große Fensterflächen durch das Drehen eines Stellrades nach außen geklappt und wieder geschlossen werden – eine physische Erfahrung, die Assoziationen an den Körpereinsatz von U-Boot-Besatzungen erweckt.
Archaische Mechanik
Für Tom Kundig ist diese analoge Form der Kinetik längst zu einem Markenzeichen geworden. Auch wenn er in Kalifornien geboren wurde, wuchs er in der rauen Natur des Bundesstaates Washington auf. In der Nähe seines Elternhauses gab es zahlreiche Sägewerke und Minen. Zudem ging er häufig bergsteigen. In seiner Arbeit als Architekt haben diese Einflüsse durchaus Spuren hinterlassen: in einer unbändigen Faszination für die Natur sowie in einem Interesse an archaischer Mechanik. Man könnte auch sagen: Er baut smarte Gebäude mit ganz und gar nicht smarter Technik. Selbst das Wasser wird hier ohne elektrischen Strom allein durch die Ausnutzung der Sonnenkraft erwärmt.
Jesus im Blick
Ein Bezug zu lokalen Bautraditionen darf ebenfalls nicht fehlen. Die Struktur der Schalungsbretter zeichnet ein horizontales Muster auf die Betonoberflächen, wodurch mit dem Sonnenstand wechselnde Schattenspiele entstehen. Dieses „Beton-Dekor“ ist ebenso häufig in der Region anzutreffen wie der zinnoberrote Farbton des Betonbodens im Erdgeschoss. „Das Programm war einfach: Es ging darum, das Haus so klein wie möglich zu machen in dieser großen, schönen Dschungellandschaft des Tijuca Nationalparks “, sagt Tom Kundig. Der Blick fällt keineswegs nur in die Wipfel der umliegenden Palmen und Bäume. Vom Obergeschoss des Hauses reicht er bis zum berühmtesten Wahrzeichen von Rio de Janeiro: dem nur wenige hundert Meter entfernt aufragenden Zuckerhut mit der 30 Meter hohen Jesusstatue.
FOTOGRAFIE Maíra Acayaba
Maíra Acayaba