Leis gestrickt auf Stockbeton
Mit urbanem Wohngefühl in den Bergen leben: Haus in der Schweiz.
Ruth Kramer und Thomas Schacht sind von Dänemark ins Schweizer Bergdorf Vals gezogen und verbinden hier skandinavisches Stilgefühl mit alpenländischer Bodenhaftung. Das eigene Haus im Weiler Leis ist nur das jüngste ihrer kreativen Projekte und verbindet die traditionelle lokale Bauweise mit zeitgenössischem Wohngefühl.
Sie hatten schon viel von dem Bergdörfchen Vals gehört, das spätestens mit Peter Zumthors Thermenbau in Architekten- und Designerkreisen Weltberühmtheit erlangt hatte. Doch als Ruth Kramer und Thomas Schacht aus Dänemark während eines Motorradtrips das erste Mal herkamen, erschraken sie. „Das Wetter war schlecht, und das Dorf präsentierte sich Grau in Grau“, erinnert sich Ruth. „Als wir am nächsten Morgen ans Fenster unseres Hotelzimmer traten, trauten wir unseren Augen nicht.“ Die Sonne schien, und das Alpental zeigte sich von seiner schönsten Seite. „Es war magisch“, schwärmt die Schweizer Modedesignerin. Ein Besuch in der Therme und eine erste Wanderung durchs Valsertal später, und der Beschluss stand fest: Hier wollten sie künftig wohnen.
Zur Miete bei Zumthor
„Wir waren zu dieser Zeit beide beruflich in Dänemark sehr engagiert und eigentlich glücklich“, erzählt Thomas Schacht. „Der Umzug in die Schweiz war eine spontane Bauchentscheidung, und wir haben sie nicht bereut.“ Als Marketingexperte und Modedesignerin wussten sie, dass ihre Kreativität auch von der Ferne aus gefragt sein würde, und tatsächlich konnten die beiden bis heute einen Fuß in ihren alten Firmen behalten, arbeiten von der Schweiz aus an Projekten und fliegen für Sitzungen immer wieder mal nach Dänemark. Den nächsten Glücksfall erlebten sie in ihrer neuen Heimat, als sie erfuhren, dass Peter Zumthor im Weiler Leis oberhalb von Vals zwei Chalets baute und er ihnen eines der begehrten Häuser zur Miete überließ.
Ferien an der Brücke
Das war 2009. Bereits im Februar des folgenden Jahres eröffnete Ruth Kramer in Vals ihr eigenes Modegeschäft Moshi Moshi Mind. Schlag auf Schlag ging es weiter: „2010 erhielten wir die einmalige Gelegenheit“, sagt Thomas Schacht, „im Zentrum von Vals ein über 100jähriges Haus zu kaufen, zu renovieren und unsere Vision einer zeitgemässen Herberge in den Alpen umzusetzen.“ Das Wohnhaus war 1902 nach Pariser Plänen erbaut worden und steht vis-à-vis des Dorfplatzes, vom Dorf lediglich durch den Fluss getrennt und mit einer Brücke über den Valser Rhein verbunden, die von Jürg Conzett zusammen mit Peter Zumthor vor wenigen Jahren neu gebaut worden war. Im Dezember 2011 eröffneten Ruth und Thomas die „Brücke 49“, ihr zeitgemässes Bed & Breakfast, das für die Kombination von Qualität, Ursprünglichkeit und hochwertigem Design steht. „Wir versuchen, damit die traditionelle Pension wiederzubeleben und neu zu erfinden.“
Als ob diese Projekte nicht genug wären, entschied das Paar, auch noch selbst zu bauen. Einem Bekannten gehörten in Leis zwei Grundstücke, die er bebauen wollten. Die perfekte Gelegenheit für Ruth und Thomas, die sich mit ihrem künftigen Nachbarn schnell einig wurden. Für die Bauten verantwortlich zeichnete die Architektin Simona Pribeagu Schmid. Der geschützte Weiler Leis liess keine Extravaganzen zu: Die Bauvorschriften erlauben nur Holzhäuser im traditionellen Strickbau, denen sich auch die Gebäude von Peter Zumthor und Simona Pribeagu Schmid fügen mussten, die den kompakten alten Dorfkern um ein zeitgenössisches Ensemble ergänzen. „Die Bauherren haben sich moderne Häuser gewünscht“, erläutert die Architektin, „mit grossen Fenstern, hohen Räumen und etwas ‚urbanem Chic’. Der Ort aber verlangte nach einem sensiblen Umgang mit der lokalen Tradition, Feinfühligkeit und Integration. Es galt also, durch die Neuinterpretation traditioneller lokaler Bauweisen die Ansprüche der Bauherrschaft mit der Architektur des Dorfes in Einklang zu bringen.“
Ein Wohnzimmer wie ein Teleskop
Das fertige Haus steht auf einem massiven Sockel aus gestocktem Beton, in dem sich die kalten Räume sowie Eingang und ein Atelier befinden. „Darüber bildet ein umlaufendes Band mit Fenstern, eng rythmisiert durch vertikale Holzstäbe, eine Art ornamentales Fries“, erklärt Simona Pribeagu Schmid ihren Entwurf. „Dieses zeitgenössische Element soll dem Haus etwas Kleinteiliges, Verspieltes verleihen und erlaubt zugleich, die Zimmer und Bäder im mittleren Geschoss angemessen zu belichten.“ Auf diesem Mittelteil lagert schliesslich das in traditioneller Strickbauweise konstruierte Obergeschoss. „Hier gibt es nur noch wenige, dafür grosse Öffnungen“, so die Architektin. „Ich habe versucht, die beschränkten Möglichkeiten der Strickbauweise maximal auszureizen. Der Hauptwohnraum stösst dabei teleskopartig durchs Gebäude und holt so auf der einen Seite die Weite des Tals, auf der anderen die Steilheit des Berghangs hinter dem Haus ins Innere.“
Viel über wenige Dinge
Seit Herbst 2012 leben Ruth und Thomas Kramer nun in ihren eigenen vier Wänden: „Es ging alles so unglaublich schnell“, staunt Ruth. „Innerhalb von drei Jahren sind wir nach Vals gezogen, haben einen Laden und ein Gasthaus eröffnet, und nun haben wir auch noch gebaut.“ Von Anfang an war den beiden wichtig, dass sie sich ins Gemeindeleben integrieren und die Bewohner in ihre Projekte einbeziehen. So luden sie nicht nur das ganze Dorf zur Eröffnung der „Brücke 49“ ein, sondern kaufen auch ihre Produkte wie Käse, Fleisch, Milch und Honig bei ausgewählten lokalen Herstellern. Dass örtliche Handwerker für die Renovierung des alten und den Bau des neuen Hauses zugezogen wurden, ist selbstverständlich. „Die Qualität der Dinge, die in Vals gemacht werden, ist sehr hoch“, sagt Ruth Kramer. „Das hat uns vor Augen geführt, dass wir als so genannte Kosmopoliten zwar von vielen Dingen etwas Weniges wissen, dass man hier aber über wenige Dinge viel weiss. Das ist sehr wertvoll.“
Wirklich angekommen
Obschon durch die Strickbauweise ihres Hauses eine gewisse Struktur vorgegeben war, konnten die Bauherren ihre Wünsche einbringen. So musste etwa eine passende Wand für das Bücherregal geschaffen werden, und das Paar stellte sich einen offenen Wohnraum vor, der zugleich Rückzugsmöglichkeiten bietet. Die Architektin löste dies, indem sie das oberste Geschoss in der Mitte höher ausgestaltete und daneben mehrere geschützte Nischen schuf, in denen sie die Funktionen Küche, Bibliothek und TV-Lounge unterbrachte. Die Bewohner sind begeistert von der sorgfältigen und zuverlässigen Arbeit, welche die Architektin und ihre Handwerker geleistet haben. Grund für Klagen finden sie keinen. Ruth Kramer: „Jetzt sind wir wirklich angekommen.“
FOTOGRAFIE Martin Guggisberg
Martin Guggisberg
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