Memphis im Realismus
Ein musterekstatisches Apartment von Mistovia in Warschau
Die Moderne glaubte fest an „Weniger ist mehr“, die italienische Stilbewegung Memphis feierte ein expressives „Mehr ist mehr“. In einem kleinen Apartment im Warschauer Viertel Praga treffen beide Welten aufeinander. Marcin Czopek hat mit seinem Designstudio Mistovia den Spagat gewagt und mit wenigen, aber ausdrucksstarken Einbauten und Möbeln ein einzigartiges Interieur geschaffen, das sich statt auf Trends und Konventionen nur auf sich selbst und seinen Ort bezieht.
Als sich Marcin, Gründer des Designstudios Mistovia, und Paulina, Art-Direktorin in der Kreativbranche, zum ersten Mal treffen, sitzen sie in der angesagten Wozownia Bar in Warschaus Stadtzentrum. Paulina sucht einen Innenarchitekten für ihr 45 Quadratmeter großes Apartment auf der anderen Seite der Weichsel. Marcin ist für seine kühnen Entwürfe, seine ausdrucksstarke Farbpalette und für ausgefallene Materialkompositionen bekannt. Und sie hätten kaum einen besseren Ort für ein erstes Brainstorming finden können. Das Interieur der Wozownia Bar ist eine Mischung aus 1950ies-Italo-Style, Memphis-Geometrien und Blockfarben. „Paulina war sehr offen für mutige Ideen – und es ist gut möglich, dass sich der Stil des Ortes, an dem unser erstes Treffen stattfand, in der finalen Inneneinrichtung widerspiegelt“, resümiert Marcin.
Realismus mit Geschichte
Paulinas Wohnung liegt in Praga II, einem Viertel mit einem beeindruckenden architektonischen Erbe im Zentrum der Stadt. Es ist die liebste Gegend der Wohnungsbesitzerin. Die Nachbarschaft ist vom sozialistischen Realismus der Fünfzigerjahre geprägt. Ihre Wohnung befindet sich in einer denkmalgeschützten Nachkriegssiedlung, die von den Architekten Jerzy Gieysztor und Jerzy Kumelowski geplant wurde. Aus Respekt vor der Geschichte erhielten die Eigentümerin und der Architekt den Grundriss größtenteils. „Obwohl wir einige Optionen in Erwägung gezogen haben, entschieden wir uns letztendlich, die kleine Küche mit dem Wohnzimmer zu verbinden“, sagt Marcin. Außerdem haben wir beschlossen, das Badezimmer so zu belassen und den Hauswirtschaftsraum mit dem Ankleidezimmer und dem Schlafzimmer zu verbinden.“ Das Panorama vor dem Fenster wird von der markanten Architektur und weiten Grünflächen bestimmt. Voraussetzungen, unter denen sich das Duo schnell darauf einigte, dass das besondere Milieu auch Einfluss auf Ästhetik und Gestaltung der Räume nehmen sollte.
Kuben in Küche und Korridor
Vor der Planung erstellte Paulina eine Material-Wunschliste. Beim Boden waren die Vorstellungen noch dezent: Gewünscht war ein neutraler Mikrozementboden. „Der helle, einheitliche Boden und die passenden Wände mit einer zarten Textur bieten eine gedämpfte Basis. Sie wird zur Bühne für geometrische Formen, interessante Strukturen und mutige Muster“, erklärt Marcin. Auch Edelstahl, Furnier und Glasbausteine standen auf ihrer Liste sowie die Bitte, dass Marcin alles zu einem harmonischen und kraftvollen Stilpuzzle zusammensetzt. Und auch funktional griff Marcin das Thema der Raumcollage auf: Das Layout der Wohnung wird durch mehrere eingestellte Kuben organisiert. Jeder übernimmt eine andere Funktion und ist homogen in einem Material mit einer besonderen Musterqualität ausgeführt. In der Küche ist es ein hoher Einbauschrank aus beeindruckend gemasertem Nussbaum, neben dem massiven Türportal aus grünem Marmor in James Bond-Manier steht ein raumhoher Holzschrank. Seine psychedelisch anmutende Oberfläche ist die erste Memphis-Referenz. Die Farbtechnik wurde in den Achtzigerjahren von Ettore Sottsass entwickelt, um die Maserung des Holzes mit bunten Farben hervorzuheben.
Reverenz an Memphis
Die organischen und grafischen Muster auf Stein und Holz wurden von Mistovia bewusst mit Kontrasten kombiniert. Glatte, glänzende Oberflächen finden sich bei Fliesen und auf lackierten Möbelstücken, die Küche ist aus gebürstetem Edelstahl, der runde, gepunktete Esstisch besteht aus rosa Terrazzo und das Badezimmer wurde mithilfe von gemauerter Wand und Glasbausteinen vom Wohnbereich getrennt. Das Mobiliar des Apartments ist eine Reise durch die Designgeschichte. Junge polnische Entwürfe (wie der aufgeblasene Metall-Hocker Plopp von Zieta) stehen neben Vintage-Modellen, wie den naturholzfarbenen Esstisch-Stühlen von Bruno Rey aus dem Jahr 1971. In den Schrank am Eingang wurde eine zurückgesetzte Stahltür integriert, deren glatte, abweisende und glänzende Fläche an die Fronten von Tresorzugängen oder Safe Rooms erinnert. Tatsächlich befindet sich dahinter eine andere Art von privatem Schutzraum: das Schlafzimmer. Auch dort gibt es wieder einen Einbau-Kubus (diesmal in Purpur) und Musterkontraste. Hinter dem Bett installierte Mistovia – als Ersatz für ein Kopfteil – italienische Großformat-Fliesen in Blau-Weiß, die wie eine Stilhochzeit zwischen Marmor und Blaumalerei wirken.
Mehr Mut zum Muster
Ein kleines Bad bildet das letzte Element des ausgeklügelten Raum-Puzzles. In seiner Größe ist es auf ein Minimum reduziert, stilistisch steht es den anderen Räumen im Hinblick auf die Opulenz in nichts nach. Während Wände und Böden mit kleinen Pool-Riemchen gefliest wurden, ist der brachiale Waschtisch ein Statement. Sein schwerer Korpus aus Nussholz ruht auf untersetzten Zylinder-Beinchen in Kobaltblau und die aufgelegte Platte besteht wiederum aus dem grünen Marmor, der auch die Eingangstür umfasst. Darüber schwebt eine signalrote Leuchte der polnischen Marke Lexavala und macht das Badezimmer zu einer Essenz des gesamten Raumkonzepts, das sich aus Farbe, Mustern und außergewöhnlichen Materialien zusammensetzt – und es dabei schafft, die kleine Fläche niemals überladen wirken zu lassen. „Mehr ist mehr“, resümiert auch Marcin – und meint damit eher „mehr Mut“ als „mehr Möbel“.
FOTOGRAFIE ONI studio ONI studio