Raum für Revolutionen
Flexibles Wohnen in San Sebastián von Ismael Medina Manzano

Bett, Schrank, Schreibtisch. Ist ein Grundriss groß genug für dieses Inventar, gilt er als Zimmer. Ismael Medina Manzano fordert eine Abkehr von Normen – und Grundrisse, die flexibel genug sind, um aus einem Raum mehrere Zimmer zu machen.
Mit den Reformen des „Stabilisierungsplans“ verfolgte Franco 1959 die Strategie, die spanische Wirtschaft zu modernisieren und hatte Erfolg. In den Sechzigerjahren erlebte das Land das „Desarrollismo“, das spanische Wirtschaftswunder. Die Industrie florierte, die Städte wuchsen und der Wohnraum wurde knapp. Die Regierung förderte deshalb den Bau günstiger, standardisierter Wohnungen, die vor allem möglichst viele Menschen auf möglichst kleiner Fläche unterbringen sollten. Der spanische Designer, Architekt und Forscher Ismael Medina Manzano greift in seinem Projekt The Unplanned Domestic Prototype diese starre Wohnstruktur aus der Geschichte seines Landes auf und macht sie zum praktischen Schauplatz eines kritischen Experiments.
Räumchen, öffne dich
Ein Großteil der spanischen Wohnungen der Sechzigerjahre orientiert sich strikt am klassischen Kernfamilienmodell. Der Grundriss ist in viele kleine, geschlossene Räume für Erwachsene und Kinder unterteilt; Küche, Wohn- und Esszimmer sind voneinander getrennt. Manzano sieht die Notwendigkeit, die alten Strukturen im wortwörtlichen Sinne aufzubrechen und an die vielfältigen Lebensmodelle des 21. Jahrhunderts anzupassen. Statt eines unflexiblen Wohngerüsts, das das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner reglementiert, will Manzano „die Vielfalt der sozialen Beziehungen und ortstypischen Lebensweisen feiern“. Sein Konzept, bei dem sich der Raum physisch und konzeptionell umformen und erweitern lassen soll, liest sich wie ein Übertrag: So wie das Leben und sein Kontext sich ständig dynamisch verändern, ist auch der Raum, in dem dieses Leben stattfindet, fließend und flexibel.
Umarmende Geste
Das 80 Quadratmeter große Apartment, das Manzano generalüberholt hat, liegt in San Sebastián, einer pittoresken Küstenstadt hundert Kilometer östlich von Bilbao im Baskenland. Die wichtigste ästhetische Geste des neuen Interieurs ist eine geschwungene Wand, die den Flur vom Wohnzimmer trennt. Die konkaven Rundungen, die an eine Umarmung erinnern, weisen in den Raum; der zentrale Durchgang wird von auskragenden Platten aus lokalem Sandstein eingefasst. In die beiden rückwärtigen, durch ihre Asymmetrie herausfordernden Räume integrierte Manzano zwei Garderoben- und Abstellräume sowie ein azurblaues Minibad. Gerade einmal anderthalb Quadratmeter nimmt das kleine Örtchen ein. Wem das zu eng wird, der kann auf das ebenfalls azurblaue Masterbad ausweichen, das sich an den Flur anschließt und immerhin 3,2 Quadratmeter misst.
Epizentrum Wohn-Ess-Küche
Großzügige Wellness-Suiten spielen in der Wohnvision des Architekten offenbar keine große Rolle, wohl aber die Küche als sozialer Mittelpunkt. In einem tangentialen Übergang schließt ein Küchenblock an die geschwungene Wand an, setzt sich aber durch einen Materialwechsel ab. Die grasgrünen Reliefkacheln der halben Rotunde stehen im Kontrast zu einem vollverspiegelten Modul, das um die zentrale Arbeitsfläche von Schränken, Vorratskammern, Haushaltsgeräten und Schubladen eingerahmt wird. Flächenbündig werden sie zu einer homogenen Fläche, die den gesamten Wohnraum reflektiert.
Bei den übrigen Möbeln legte Manzano vor allem Wert auf größtmögliche Flexibilität – unter Berücksichtigung nachhaltiger Strategien. Viele Materialien stammen von Handwerks- und Fachbetrieben aus der unmittelbaren Umgebung und wurden durch Wiederverwendung vor der Entsorgung bewahrt. Dazu gehören Baumwurzeln aus der benachbarten Schreinerei, recycelter Stahl aus einer nahegelegenen Metallwerkstatt, wiederverwertete Granitplatten und Stühle aus gebrauchten Aluminiumrohren.
MuFu und Patchwork
Bewusst wurden keine harmonischen Möbelfamilien oder Funktionskonvolute ausgewählt. Das Mobiliar soll die Nutzenden dazu einladen, individuell und situativ aufzulesen, was benötigt wird. Ein zentrales Stück ist ein rollbarer und höhenverstellbarer Scherentisch, der auf Kniehöhe als Couchtisch, auf Hüfthöhe als Esstisch und auf höchster Stufe als Küchenwerkbank eingesetzt wird. Stühle, Leuchten, Werkzeug – was weiterhin gebraucht wird, wird aus den mobilen Ressourcen des Raumes zusammengesammelt. Das Apartment wird zum Labor und das Wohnen zum Experiment, was Manzano auch durch seine fotografische Dokumentation augenzwinkernd kommentiert. Indem er alle Möbel wie bei einem Umzug kreuz und quer übereinanderstapelt, löst Manzano funktionale Zusammenhänge auf und gibt alles zur Neuinterpretation frei. Oder wie es Nietzsche treffend formulierte: „Aus dem Chaos entsteht Ordnung.“
FOTOGRAFIE Hiperfocal Hiperfocal
Mehr Projekte
Aus Werkstatt wird Wohnraum
Umbau im griechischen Ermionida von Naki Atelier

Londoner in der Lombardei
Tuckey Design Studio verwandelt ein Wohnhaus am Comer See

Zwischen Stroh und Stadt
Nachhaltiges Wohn- und Atelierhaus Karper in Brüssel von Hé! Architectuur

Flexibel zoniert
Apartment I in São Paulo von Luiz Solano

Freiraum statt Festung
Familienhaus mit Innenhof in Bangalore von Palinda Kannangara

Kork über Kopf
Umbau eines Penthouse mit Korkdecke von SIGLA Studio in Barcelona

Drei Pavillons für ein Familiendomizil
Australisches Wohnhaus von Pandolfini Architects und Lisa Buxton

Ein Haus der Gegensätze
Kontrastreicher Neubau nahe Barcelona von Ágora

Die Magie der Entgrenzung
Luftiger Neubau Casa Tres Patis von Two Bo in Spanien

Raumsequenzen in der Grotte
Casa Gruta in Mexiko von Salvador Román Hernández und Adela Mortéra Villarreal

Altes Haus im neuen Licht
Familienwohnung von Jan Lefevere in Kortrijk

Mehr Platz fürs Wesentliche
Umbau eines Backstein-Cottage in London von ROAR Architects

Raum-Chamäleon
Flexibel nutzbarer Anbau in Brisbane von Lineburg Wang

Wohnräume mit Tiefgang
Innenausbau einer Villa am Rhein vom Düsseldorfer Studio Konture

Holz und Stein im alpinen Dialog
Apartmenthaus Vera von atelier oï und CAS Architektur in Andermatt

Haus mit zwei Gesichtern
Umbau eines Reihenhauses in Lissabon von Atelier José Andrade Rocha

Umbau am offenen Herzen
Ply Architecture transformierte einen Sechzigerjahre-Bungalow in Australien

Reise in die Vergangenheit
Studio Hagen Hall gestaltet ein Londoner Reihenhaus im Mid-Century-Stil

Downsizing als Designprinzip
Kompaktes Wohnhaus in Portugal von Atelier Local

Der Reiz der Reduktion
Innenarchitekt Ilkka Palinperä gestaltet ein Wohnhaus bei Helsinki

Authentische Askese
Apartment-Rückbau in Paris von Atelier Apara

Umbau im Anbau
Gianni Botsford erweitert Fosters Londoner Frühwerk

Visionen vom Wohnen
Design-Apartments auf der MDW 2025

Mit Ecken und Kurven
Umbau eines Reihenhauses in London von Pensaer

Raw in Rio
Von Säulen geprägter Wohnungsumbau von Estudio Nama

Nostalgie nach Mass
Belgravia Townhouse von Child Studio

Grobe Perfektion
Symbiose aus Beton und Holz in einem Apartment in Tokio von Kenta Hirayama

Appetitliches Apartment
Wohnungsumbau von Iva Hájková Studio in Prag

Raumwunder in Porto
Umbau eines portugiesischen Mini-Häuschens von Spaceworkers

Hygge auf Tschechisch
Umbau des Cottage Two Sisters von Denisa Strmiskova Studio im Isergebirge
