Sechsfache Südseite
Radikale Öffnung einer Mailänder Wohnung von llabb

Sechzig Quadratmeter können sich wie ein Architektur gewordener Schuhkarton anfühlen, aber auch wie ein großzügiges Loft. Eine Mailänder Wohnung hat beide Zustände erlebt. Die Gestalter*innen vom Interiorstudio llabb aus Genua öffneten den strengen Midcentury-Grundriss zugunsten eines fluiden Raumkonzepts. Ihre wichtigste Entdeckung? Die außerordentliche Lichtwirkung der insgesamt sechs Südseiten-Fenster hoch über den Dächern der Stadt.
Das Mitte des 20. Jahrhunderts geplante Apartment liegt zentral in Mailand, im Viertel Loreto. Der Dom ist in einer halben Stunde zu Fuß zu erreichen, bis zum Hauptbahnhof sind es nur ein paar Querstraßen. Vor der Tür kreuzen sich Via Spontini und die Einkaufsmeile Corso Buenos Aires. Das bisherige Layout der Wohnung entsprach der Typologie des Baujahrs und gliederte den Grundriss in klar abgegrenzte Funktionsbereiche. Auf gerade einmal sechzig Quadratmetern befanden sich zwei Zimmer, eine kleine Küche und ein schmales Bad, die Erschließung funktionierte zentral vom Eingangsbereich aus. Die klare Trennung der Räume sorgte aber dafür, dass das eigentlich üppig einfallende Tageslicht von den Wänden geschluckt wurde. Das sollte sich ändern. Mit dem neuen Eigentümer zog auch seine Vorstellung von räumlicher Großzügigkeit ein – und er beauftragte das aus Genua stammende Studio llabb mit der Neustrukturierung und Umgestaltung der Fläche.
Fünfter Stock mit sechs Fenstern
Was den Gründungspartnern von llabb, Federico Robbiano und Luca Scardulla, zuerst auffiel, waren die besondere Lage und Ausrichtung des Apartments. Es befindet sich im fünften Stockwerk und verfügt über sechs nach Süden ausgerichtete Fenster. „Der Reichtum an natürlichem Licht ist das Highlight der Wohnung“, erklären die Gestalter. Deshalb schlugen sie vor, den Grundriss radikal aufzubrechen. Lediglich das Schlafzimmer sollte als privates Rückzugsrefugium bestehen bleiben und sich temporär zum Wohnbereich öffnen. Statt einer durchgängigen Wand stellte llabb ein Wandmodul mittig in den Raum, das orthogonal zur Fassade verläuft und den offenen Grundriss dynamisch und flexibel macht. Zwei Schiebetüren laufen dort zusammen. Sind sie geöffnet, schirmen sie den Schlafbereich ab. Werden sie geschlossen, so ergibt sich ein zirkulär begehbares Wohnlayout.
Ein Marmor-Mond als Feuerstelle
„Die beiden Schiebetüren definieren den Raum nicht nur. Volumen, Öffnungen und Transparenz wirken zusammen mit der Einrichtung und werden zu sich ständig verändernden Elementen bei der Interaktion zwischen dem Besucher und seiner Umgebung“, erklärt Luca Scardulla. Bewusst hat llabb das Modul so gestaltet, dass es zum dynamischen Spiel mit dem Grundriss einlädt. Sein Kern ist eine dunkelgrün marmorierte Wand aus Steinzeug, über die sich zwei weiße Holzplatten mit halbkreisförmigen Fenstern aus Opalglas schieben. Geschlossen werden sie zu einem mattgrünen Mond, geöffnet zu zwei halben „Bullaugen“ zum Schlafraum. Abends sorgt das Modul außerdem für Lagerfeuermomente, wenn die verborgen installierte Lichtschiene die Kontur des Steinzeug-Mondes zum Leuchten bringt.
Weniger (Möbel) ist mehr (Design)
Der im französischen Fischgrätmuster verlegte Eichenparkettboden macht die Fläche zu einer durchgängigen Einheit und bringt ästhetisch Wärme in die Räume. Auch die Fenster wurden durch dominante, aus der Wandfläche kragende Eichenbalken eingerahmt, die die ansonsten in Weiß und Grün gehaltenen Wohn- und Schlafbereiche durch ihre natürliche Oberfläche ergänzen. Neben dem Licht ist auch Luft ein gestalterisches Thema des Interieurs. Llabb hat sich gemeinsam mit dem Wohnungseigentümer für eine reduzierte, aber anspruchsvolle Möblierung entschieden. Neben einigen auf Maß gefertigten Einbaulösungen sind vor allem Designerstücke eingezogen. Der filigrane Esstisch stammt aus der Feder von Rodolfo Dordoni, der Beistelltisch mit Marmorbasis ist von Ron Gilad und die Bilia-Leuchte von Gio Ponti ist ebenso ein Klassiker wie die Stücke aus der skandinavischen Moderne.
Licht als Weichzeichner
Indem die Innenarchitekt*innen von llabb die Räume des Mailänder Apartments auflösten, konnten sie mehr Platz schaffen. „Die Spannung zwischen Räumen ist ein Thema, dem wir als Studio immer viel Aufmerksamkeit gewidmet haben. Sie müssen voneinander getrennt und doch vereint sein“, erklärt Federico Robbiano. Statt auf dramatische Gesten setzt er gemeinsam mit Luca Scardulla auf raffinierte Lösungen und sorgfältig ausgearbeitete Details, die auf einen einzelnen Bewohner und gelegentliche gesellige Runden zugeschnitten sind. Die sechs identischen und in einem regelmäßigen Raster platzierten Fenster entlang der Südwand sind zu einem Element des Interieurs geworden. Das durch sie einfallende Licht wird von den Farben und Materialien sanft aufgenommen. Luca Scardulla fasst sein Konzept prägnant in einem Satz zusammen: „Die Präzision der Geometrien kontrastiert mit der Weichheit des Lichts.“
FOTOGRAFIE Anna Positano, Gaia Cambiaggi / Studio Campo
Anna Positano, Gaia Cambiaggi / Studio Campo
Mehr Projekte
Gebaut für Wind und Wetter
Ferienhaus im schwedischen Hee von Studio Ellsinger

Ein Dorfhaus als Landsitz
Wohnumbau von Ricardo Azevedo in Portugal

Ein offenes Haus
Feministischer Wohnblock Illa Glòries von Cierto Estudio in Barcelona

Harte Schale, weicher Kern
Unkonventionelles Einfamilienhaus in Mexiko von Espacio 18 Arquitectura

Zwischen Bestand und Zukunft
Umbau einer Kölner Doppelhaushälfte durch das Architekturbüro Catalanoquiel

Offen für Neues
Nachhaltige Renovierung einer flämischen Fermette durch Hé! Architectuur

Baden unter Palmen
Studio Hatzenbichler gestaltet ein Wiener Loft mit Beton und Grünpflanzen

Maßgeschneidertes Refugium
Georg Kayser Studio verbindet in Barcelona Altbau-Charme mit modernem Design

Rückzugsort im Biosphärenreservat
MAFEU Architektur entwirft ein zukunftsfähiges Reetdachhaus im Spreewald

Im Dialog mit Le Corbusier
Umbau eines Apartments im Pariser Molitor-Gebäude von RREEL

Warschauer Retrofuturimus
Apartment mit markantem Raumteiler von Mistovia Studio

Trennung ohne Verluste
Ferienhaus im Miniformat auf Usedom von Keßler Plescher Architekten

Architektur auf der Höhe
Wohnhaus-Duo von Worrell Yeung im hügeligen New York

Architektur im Freien
Pool und Pergola von Marcel Architecten und Max Luciano Geldof in Belgien

California Cool
Mork-Ulnes Architects restaurieren das Creston House von Roger Lee in Berkeley

40 Quadratmeter Einsamkeit
Ländliches Ferienhaus von Extrarradio Estudio in Spanien

Von der Ruine zum Rückzugsort
Wertschätzender Umbau von Veinte Diezz Arquitectos in Mexiko

Zwischen Alt und Neu
Architect George erweitert Jahrhundertwendehaus in Sydney

Co-Living mit Geschichte
Umbau des historischen Metropol-Gebäudes von BEEF architekti in Bratislava

Aus dem Schlaf erwacht
Kern Architekten sanieren das Vöhlinschloss im Unterallgäu

Archäologie in Beton
Apartment-Transformation von Jorge Borondo und Ana Petra Moriyón in Madrid

Geordnete Offenheit
Umbau eines Einfamilienhauses von Max Luciano Geldof in Belgien

BAYERISCHES DUO
Zwei Wohnhäuser für drei Generationen von Buero Wagner am Starnberger See

Über den Dächern
Umbau einer Berliner Penthousewohnung von Christopher Sitzler

Schwebende Strukturen
Umbau eines maroden Wohnhauses von Bardo Arquitectura in Madrid

Camden Chic
An- und Umbau eines ehemaligen Künstlerateliers von McLaren.Excell

Aus Werkstatt wird Wohnraum
Umbau im griechischen Ermionida von Naki Atelier

Londoner in der Lombardei
Tuckey Design Studio verwandelt ein Wohnhaus am Comer See

Zwischen Stroh und Stadt
Nachhaltiges Wohn- und Atelierhaus Karper in Brüssel von Hé! Architectuur

Flexibel zoniert
Apartment I in São Paulo von Luiz Solano
