Projekte

Wie die Kathedrale auf das Handtuch kam

von Norman Kietzmann, 12.07.2011


Dass Raum keine Frage der Größe ist, stellen mutige Eigenheimbauer in Japan immer wieder unter Beweis. In Tokio realisierte das Architekturbüro Atelier Tekuto ein Wohnhaus für ein junges Paar und seine Katze – auf nur 21 Quadratmetern Fläche. Doch statt räumlicher Tristesse erwartet die Bewohner eine lichtdurchflutete Kathedrale im Kleinformat, die den Rhythmus des Alltags geschickt zu hinterfragen vermag.


Die Geschichte klingt wie eine von vielen. Und dennoch nahm sie keinen gewöhnlichen Ausgang: Ein junges Paar in Tokio begab sich auf die Suche nach einem günstigen Baugrund und wurde – rund 20 Minuten Zugfahrt vom Stadtzentrum entfernt – im Stadtteil Setagaya fündig. Eingefasst von spröden, zweigeschossigen Apartmenthäusern und einer Kabelleitung, die sich an der Grenze des handtuchschmales Grundstücks entlangspannt, fanden sie ihr zukünftiges Zuhause.

Keil durch den Baugrund

Anstatt die vorhandene Fläche dicht zu bebauen, überzeugte Architekt Yasushiro Yamashita, der sein Tokioer Büro 1991 auf den Namen Atelier Tekuto getauft hatte, die Bauherren von einem ungewöhnlichen Grundriss. Wie ein schmaler Keil solle sich das Gebäude durch das Grundstück schlagen und dabei so nah wie möglich an die Grenze zu den Nachbarn herantreten, um noch Platz für einen Streifen Grün zu lassen. Ganze 21 Quadratmeter misst nun die bebaute Fläche, auf der Yasushiro Yamashita insgesamt 61 Quadratmeter Wohnraum auf zwei Etagen sowie einem Zwischengeschoss organisierte.

Damit das Haus mit 6,85 Metern Höhe die Bebauung der Nachbargebäude nicht überragt, versenkten Atelier Tekuto das Erdgeschoss um 1,30 Meter unter die Erde. Während dort der Wohnbereich, die Küche sowie das Bad als Open Space ineinander übergehen, wurde der Eingangsbereich um drei Treppenstufen angehoben. Wenn die Bewohner und ihre Gäste das Haus betreten, finden sie sich auf einer zentralen Plattform wieder. Von dieser führt eine Treppe aus weißem Stahlblech nach unten in den Wohnbereich, während eine filigrane Leiter den Weg hinauf in den Schlafbereich weist.

Lichtdurchfluteter Raum


Die gekrümmten Längstseiten des schmalen Hauses treffen dort zu einem Spitzbogen zusammen und verwandeln den langgezogenen Raum in eine miniaturisierte gotische Kathedrale. Indem der Boden des Obergeschosses nicht geschlossen, sondern mit weitmaschigen, rautenförmigen Metallgittern ausgelegt wurde, fällt Tageslicht bis in den darunter liegenden Wohnraum hinein. Unterstützt wird diese Wirkung durch die Materialität des Hauses. Anstatt auf Mauerwerk oder Beton setzten Atelier Tekuto auf Leichtbau und lösten die gesamte Statik mithilfe eines stählernen Gerüsts. Über dieses spannten sie eine lichtdurchlässige Außenhaut aus drei Millimeter starkem, fiberverstärkten Kunststoff.

Die weiße, transluzente Hülle lässt nicht nur Tageslicht von allen Seiten in den Innenraum eindringen. Auch die Bewohner werden durch die schmale Ausrichtung des Hauses zu Akteuren auf einer Bühne, deren Schatten sich an den beiden langgezogenen Fassaden des Hauses abzeichnen. Das Leben der jungen Bewohner und ihrer Katze wird auf diese Weise in die Nachbarschaft übertragen, ohne dass sie auf ihre Privatsphäre vollständig verzichten müssen.

Illusion von Tiefe


Um dem Raum zusätzlich Tiefe zu verleihen, griffen Atelier Tekuto zu einem optischen Trick: Misst der Wohnraum im Untergeschoss eine Breite von 3,2n Metern in Richtung Straße, verjüngt sich der Bau auf einer Länge von 29,30 Metern auf die Breite der Hintertür von lediglich 0,50 Metern. Auch die Höhe des Hauses senkt sich von 6,85 Meter auf etwas unter drei Meter ab und gibt dem Gebäude den Charakter eines dynamischen Keils. Der Boden des Obergeschosses folgt der Schräge des Hauses und führt vom Schlafbereich, der oberhalb des Hauseingangs zur Straßenseite ausgerichtet wurde, als Rampe zur Hintertür hinab. Die perspektivische Verzerrung erzeugt dabei die Illusion einer enormen räumlichen Tiefe, die trotz der kompakten Größe des Hauses den Eindruck von Enge oder gar Beklemmtheit vermeidet.

Ungewöhnlich zeigt sich auch die Ausführung des Fundaments, wobei Yasushiro Yamashita auf eine Wanne aus Beton verzichtete. Stattdessen ließ er acht Millimeter starke Stahlplatten, die zuvor gegen Korrosion, Wärmeverlust und Wasserdurchlässigkeit behandelt wurden, zusammenschweißen und im Boden versenken. Die Baukosten konnten auf diese Weise deutlich unter das angesetzte Budget gesenkt werden, womit der Name des Hauses – „Lucky Drops“  – eine zusätzliche Bedeutung bekommtt. Im Japanischen bedeutet die Redewendung nämlich so viel wie „Das Beste zum Schluss“.


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Projektarchitekten

Atelier Takuto

www.tekuto.com

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