Aufstieg der Superkisten
Spektakuläre Biwakarchitektur im Hochgebirge
Einen Berg zu erklimmen heißt, sich die eigene Willenskraft zum Gegner und das Klima zum Schiedsrichter zu machen. Ein kleines Biwak ermöglicht als Schutzhütte eine Etappenpause. Aber: Wer im Hochgebirge baut, muss mit den lokalen Ressourcen arbeiten oder alles in die unwegsamen Höhen transportieren. Das macht die Gestaltung von kompakten Wohnkisten zu einer spannenden konstruktiven Aufgabe, der sich bereits die französische Designerin und Architektin Charlotte Perriand gewidmet hat.
Während in urbanen und suburbanen Räumen das städtische Gefüge zum Milieu eines Gebäudes wird, ist es in den Bergen in der Regel die Natur. Sie formt die Silhouette, entscheidet über die Wahl des Materials und der Farben. Bergbauten haben vor allem als Almhütten eine lange Tradition. Archetypisch sind sie aus Holz oder Stein und damit aus Materialien, die sich aus der unmittelbaren Umgebung gewinnen lassen. Ihre Konstruktion ergibt sich aus langjähriger Erfahrung und aus Kontext, Landschaft und Kultur. Denn das Klima kann den Bauplatz zu einem ungemütlichen Ort machen. Schnee, Wind und Steinschlag gefährden permanent Bau und Bewohner*innen. Die ersten Schutzhütten duckten sich deshalb unter Felsvorsprünge oder schmiegten sich an den Berg. Es waren archaische Bauten aus lokalen Findlingen, in denen es durch die Ritzen zog und auf Fenster verzichtet wurde.
Ein Zimmer, kleine Küche, kein Bad
Die ersten seriellen Biwaks der Alpen entstanden in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Sie konnten vorfabriziert in zwei Dutzend Paketen transportiert werden und kamen auf dem Rücken der Errichtenden auf den Berg. Ihre Konstruktion basierte auf zwei gegensätzlichen Anforderungen: Sie mussten so leicht wie möglich sein – und Schneelasten und Windböen widerstehen. Statt eines gegossenen Fundaments gab es nur eine Befestigung am Boden durch Schrauben und Drahtspannseile. Die ersten Varianten setzten alle auf die Form einer halben Tonne, die meist durch Blech verkleidet wurde und an klassische Armeebaracken erinnert. Das Interior eines Biwaks ist Minimalismus durch Gebrauch. Auf dem verfügbaren Raum wird jeder Zentimeter für Schlafplätze, eine sichere Kochgelegenheit und Stauraum fürs Gepäck genutzt. Heizungen sucht man in den meisten Biwaks bis heute vergebens. Körperwärme, Kocher und Kerzen müssen reichen, um die Temperatur m Inneren um ein paar Grad anzuheben.
Versorgungskapseln als Architekturaufgabe
Die erste bekannte Architektin, die sich für die Gestaltung von Biwaks und damit im Grunde für ein Tiny House unter Extrembedingungen interessierte, war Charlotte Perriand. Zuerst entwarf sie gemeinsam mit dem Ingenieur André Tournon eine Wohnschachtel aus Aluminiumstangen und Sperrholz, die sich mit Stelzenbeinchen aus dem saisonalen Schnee erhob. Nachdem fünf dieser Typen in den Bergen errichtet worden waren, entwickelte sie das Konzept in einer Kooperation mit Pierre Jeanneret, der ebenso wie sie für Le Corbusier arbeitete, weiter. Das Refuge Tonneau ist eine prismenförmige Rundhütte mit Aluminiumverkleidung und kleinen Rundfenstern, die schon lange vor dem Space Age menschenfeindliches Territorium bewohnbar machen sollte.
Biwak als Bausatz
Perriands zweiter Biwakentwurf von 1938 wurde tatsächlich erst im Jahr 2010 das erste Mal gebaut – trotzdem beeinflusste er viele der nachfolgenden Hüttenplaner*innen. Gerade in den Sechziger- und Siebzigerjahren wurden viele Kisten in die Berge gestellt, die so aussehen, als wären sie gerade von einer Weltraummission zurückgekehrt. Gleichzeitig profitierte man vom technologischen Fortschritt. Man nutzte Hubschrauber, um die Bauteile in die Berge zu bringen, und experimentierte mit der Modulbauweise. Es entstanden polygone Iglus aus Metall und Tunnelbauten, die sich aus einzelnen Segmenten zusammensetzten. Und auch der Farbanstrich bemühte sich nicht mehr darum, in der Natur aufzugehen. Das Walliser Bivouac du Dolent von 1973 ist von Wanderer*innen selbst aus großer Distanz einfach zu erspähen: Es ist neonorange und könnte auch aus der Feder Stanley Kubricks stammen.
Pre-Fab-Shelter
Schutzhütten erfüllen eine Aufgabe, die sie von der Wohnarchitektur unterscheidet: Sie nehmen ihre Bewohner*innen nur temporär für ein paar Stunden oder vielleicht eine Nacht auf. Manche Hütte berücksichtigt aber nicht nur das Notwendige und bietet ihren Gästen über ihre strategische Position und zum Panorama orientierte Fenster Naturerleben. Der Bezug zur Umgebung ist über die Jahre immer wichtiger geworden. Auch und weil sich die technologischen Möglichkeiten in einem Jahrhundert Biwakbau deutlich verbessert haben. Viele der modernen Biwaks sind ultraleicht, sodass sie als Pre-Fab im Tal entstehen und dann mit einem Hubschrauber in den Bergen abgesetzt und final montiert werden.
Besonders experimentierfreudig ist man aktuell in den slowenischen und italienischen Alpenregionen. Andrea Cassi und Michele Versaci entwarfen mit dem Rifugio Matteo Corradini ein kleines, schwarzes Blockvolumen, das sich zu seinen Gebäudeenden hin verjüngt und dort in großen Panoramafenstern mündet. Eine clevere Kontur fürs Gebirge, denn so sitzt der Körper nur auf einem Viertel seiner Grundfläche und tritt als weitgehend geschlossene Kapsel auf. Das Alpine Shelter Skuta – ein Entwurf von OFIS arhitekti und AKT II mit Studierenden der Harvard University Graduate School of Design – steht in den Kamniker Alpen und ist genauso Unterkunft wie Tourismusarchitektur. Durch die zueinander verschobenen Volumen ergibt sich ein interessantes Raumgefüge mit spannenden Ausblicken. Das Interior funktioniert durch mehrere Ebenen sowohl als kommunikativer Pausenraum mit Bänken wie als kleiner Schlafsaal – wenn auf den Flächen Schlafsäcke ausgerollt werden.
Ein Haus für eine Nacht
Wer in den Bergen baut, baut im Ausnahmegebiet und in einer Umgebung ohne direkte Referenzen. Die Natur und das Klima werden zu bestimmenden Parametern, denen die Konstruktion sich funktional anpassen, aber ästhetisch nicht unterordnen muss. Durch seine einsame Positionierung wird das Biwak auch in der Interaktion mit den Nutzer*innen zu einem psychologisch interessanten Ort. Umgeben von oft monumentaler Natur erscheint die Hütte von außen meist als Hüttchen. Wer darin Unterschlupf findet, dem wird der kleine Raum durch seine Schutzwirkung schnell zu einer ganzen Welt. Das weiß zumindest der, der hier bei kaltem Wetter mit einem Tee in der Hand dem Gebirge beim Sonnenuntergang zugesehen hat.