Concorso d’Eleganza 2017: Auf Linie gebracht
Zurück zur Stromlinie: Highlights der traditionsreichsten Autoshow der Welt.

Am Comer See ticken die Uhren ein bisschen anders. Am vergangenen Wochenende hat es die Sammler und Liebhaber historischer Autos und Motorräder erneut zum Concorso d'Eleganza gezogen. Auch wenn der automobile Schönheitswettbewerb, der seit 1929 im Grand Hotel Villa d'Este ausgetragen wird, kein direkter Gradmesser für heutige Autoentwicklungen ist: Die Eleganz der Stromlinie findet sich selbst bei einigen vorgestellten Konzeptfahrzeugen wieder.
Beim Sammeln von Autos und Möbeln gibt es eine Gemeinsamkeit: In beiden Fällen ist es die Mitte des vorherigen Jahrhunderts, die Emotionen und Preise besonders in die Höhe treibt. Wurden beim Concorso d'Eleganza vor zwei Jahren noch die Siebziger- und im vergangenen Jahr die Achtzigerjahre verstärkt in den Fokus gerückt, geht es nun wieder ganz klar zurück zum Mid-Century: Eleganz statt Manierismus und Muskelspielerei lautet die Botschaft der 52 rollenden Präziosen, die am diesjährigen Wettbewerb teilgenommen haben.
Blaublütiger Bolide
Den Auftakt markierten mehrere Rennwagen aus der Vorkriegszeit. So wurde ein 1920er Ballot 3/8LC gezeigt, der beim ersten italienischen Grand Prix 1921 in Brescia den obersten Platz auf dem Siegertreppchen errang und die stolze Rennsportnation damit gleich doppelt düpierte, weil sowohl das Fahrzeug als auch dessen Fahrer Jules Goux aus Frankreich kamen. Eine Rarität ist der 1935er Lurani Nibbo, der vom Rennfahrer Giovanni „Johnny“ Lurani Cernuschi, dem VIII. Grafen zu Calvenzano, in Eigenregie gebaut wurde und dank seiner windschlüpfrigen Karosserie als erster Rennwagen die Marke von 100 mph (160,9 km/h) durchbrach – mit einem knatternden Einzylindermotor von gerade einmal 46 PS. Das kompakte Einzelstück, das an eine Mischung aus Seifenkiste und Zigarre erinnert, wurde vom Enkel „Johnny“ Luranis an den Comer See gebracht und gewann den Publikumspreis des Concorso d’Eleganza.
Für staunende Blicke sorgte ein Fahrzeug, das seiner Zeit weit voraus war und die goldene Ära des stromlinienförmigen Design maßgeblich beeinflusst hat: Der 1934 in der Tschechoslowakei gebaute Tatra 77 gilt als weltweit erster Serienpersonenwagen mit einer aerodynamischen Karosserie und Heckmotor. Dank seiner windschlüpfigen Silhouette konnte der Wagen mit einem 60-PS-Motor ein Spitzentempo von 150 Stundenkilometern erreichen. Konventionell gebaute Konkurrenzmodelle hätten dafür die doppelte Motorleistung gebraucht. Es ist interessant, wie bei diesem Fahrzeug über das aerodynamische Design und nicht über den Motor Leistung erzielt wird. Und dass obwohl der geräumige Viersitzer eher an einen rollenden Wal als an einen Rennwagen erinnert.
Raffinesse im Windschatten
Aerodynamik spielt auch beim 1946er Fiat 1100 eine entscheidende Rolle, den der Konstrukteur Pietro Frua mit einer eleganten heckflossenartigen Längswölbung über der Heckpartie versah. Wie eine straßentaugliche Interpretation eines Düsenflugzeugs mutet hingegen der Fiat 8V Supersonic an, den die Carrozzeria Ghia 1953 in Anlehnung an militärische Abfangjäger gestaltete und selbst dem Nummernschild die Anmutung eines doppelstrahligen Triebwerks gab.
Der 1957er Alfa Romeo Giulietta SS Coupé Prototipo gehört zu drei Aerodynamikstudien, die zwischen 1953 und 1955 im Auftrag von Alfa Romeo von der Turiner Karosserieschmiede Bertone entwickelt wurden. Der pfeilschnelle Entwurf des damaligen Bertone-Chefdesigners Franco Scaglione konnte auch die Jury des diesjährigen Concorso d’Eleganza überzeugen und die Siegertrophäe „Best of Show“ ergattern. Windschnittiger war jedoch ein weiteres Automobil: Wie eine Vorstufe zum Düsenflugzeug mutet der silberne Abarth 1000 Bialbero Record an, der 1960 von Pininfarina gestaltet wurde und gleich acht Weltrekorde aufstellte, darunter die 10.000-Kilometerstrecke mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von damals bahnbrechenden 191 km/h.
Gesteigerte Einfachheit
Für den Anschluss an die Gegenwart sorgten gleich mehrere Konzeptfahrzeuge. BMW hat mit dem Concept 8 Series einen Vorgeschmack auf ein neues 8er Coupé gegeben, das im kommenden Jahr auf den Markt kommen und damit eine vor 30 Jahren aufgegebene Modellreihe wieder neu beleben soll. „Das Auto zeigt eine gesteigerte Einfachheit. Es gibt weniger Linien, doch dafür ist alles skulpturaler formuliert. Reduktion bedeutet hierbei nicht, weniger zu bieten, sondern den Charakter zu verstärken“, erklärt Marc Girard, der verantwortliche Designer für die Konzeptfahrzeuge von BMW.
Dynamik wird durch das Zusammenspiel aus langer Motorhaube und fließender Dachlinie erzeugt. Die Doppelniere an der Front ist seitlich gestreckt und vollzieht eine markante Wölbung. Interessant ist vor allem das Heck, wo filigrane L-förmige Rücklichter die Außenkanten akzentuieren. „Wir hatten einen eleganten Ausdruck im Sinn. Dennoch lassen die kraftvollen Hinterradhäuser keinen Zweifel, dass es sich um einen Sportwagen handelt“, erklärt der französische Gestalter seinen Entwurf.
Eine ungewöhnliche Premiere hat unterdessen Rolls-Royce gelüftet. Zum ersten Mal seit den Vierzigerjahren ist ein komplettes Fahrzeug auf Wunsch eines einzelnen Privatkunden angefertigt worden. Vier Jahre gingen der Entwicklung des Rolls-Royce Sweptail voraus, das von der Baureihe Phantom lediglich die Plattform und den 460-PS-Motor übernahm. Der Name verweist auf die schwungvoll nach unten leitende Heckform, mit der bereits einige Rolls-Royce-Modelle der Zwanzigerjahre aufwarteten. „Die Tropfenform-Silhouette erzeugt einen einzigartigen, dynamischen Charakter. Wie viele Rolls-Royces zeigt auch dieses Fahrzeug zwei unterschiedliche Perspektiven. Während die Vorderseite Selbstvertrauen suggeriert, ist das Heck vielmehr ein Ausdruck guter Manieren“, bringt Rolls-Royce-Chefdesigner Giles Taylor die Wirkung des zweisitzigen Coupés mit Panoramaglasdach auf den Punkt.
Verstärkte Personalisierung
Die britische Automarke möchte fortan häufiger in Richtung Einzelstück gehen – wenngleich mit leichten Einschränkungen. „Dieses Auto war ein einmaliges Projekt für einen sehr besonderen Kunden. Ich glaube nicht, dass wir jemanden wieder so nah heranlassen werden. Für die Zukunft stellen wir uns vor, verschiedene Ideen zu entwickeln und sie unseren Kunden als mögliche Sondereditionen anzubieten“, beschreibt Giles Taylor die zukünftige Strategie.
Der stolze Besitzer des Sweptail ist unterdessen noch am ersten Abend des Concorso d’Eleganza mit seinem rollenden Schmuckstück nach Südfrankreich aufgebrochen: zu einem Treffen weiterer Autobegeisterter wie Rennfahrerlegende Jackie Stewart oder Pink-Floyd-Drummer Nick Mason. „Sie wussten nicht, dass er mit diesem Fahrzeug kommt. Die Überraschung und staunenden Gesichter waren ihm auf jeden Fall sicher“, erzählt Giles Taylor amüsiert. Auch wenn über den Preis Stillschweigen herrscht: Der Wagen gilt schon jetzt als teuerster Neuwagen der Welt, der laut einigen Boulevardblättern über 17 Millionen Euro gekostet haben soll.
Plädoyer für das Authentische
Die guten Nachrichten dieses Concorso d'Eleganza sind gleich drei. Die erste: Wir gehen sowohl bei den Klassikern als auch bei den Neuheiten zurück zur Eleganz. Die zweite: Es kommt nicht nur auf Größe an, wie die neue Kategorie Supergioiello: Little Toys for Big Boys zeigt und das Raffinierte und Exklusive ebenso in kompakten Dimensionen ausfindig macht. Im Mittelpunkt stehen keine aufgeblasenen Formen, sondern pfeilartige, dynamische Begleiter für den Alltag oder für die Rennstrecke, die diesen Concorso d'Eleganza vollends zum Gegenplädoyer für SUVs machen.
Der dritte Punkt: Vorbei ist die Zeit, als nur cleane, makellose, „geralphte" (in Anspielung an Ralph Laurens überperfekt restaurierte Sammlung) Fahrzeuge bewundert werden, wie die sichtlich gealterten Karosserien des Ballot 3/8LC sowie eines 1956er Maserati A6G/2000 Gran Sport beweisen. Worauf es ankommt bei diesem Schönheitswettbewerb am Comer See, ist das Echte und Authentische – selbst wenn sich hier und da auch mal der Lack ablöst.
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