Die Herzschrittmacher von Lichtenberg
Ziegen als Mitbewohner und Toskana-Feeling: Zum Gallery Weekend lockt nicht nur die Sammlung Haubrok in den Berliner Osten.
Es ist schon jetzt eine der schönsten Auswanderungsgeschichten, die Berlin jemals lesen wird – auch wenn man als gelangweilter Prenzlauer-Berg-Bewohner immer höllisch aufpassen muss, dass man nicht in die Sozialromantikerfalle tappt, also das Elend glorifiziert, weil man selbst nicht drin leben muss.
An einer mehrspurigen, lauten Kreuzung mit vielen Autos, Trams und Lkws inmitten des großen Bezirks Lichtenberg fällt der Blick auf einen Regenbogen, der die traurigen, grauen Fassaden einiger Plattenbauten verziert. Man hatte ganz vergessen, wie furchtbar Stadtverschönerungsmaßnahmen sein können. Die Pioniere der Hauptstadt aber haben es auf das Industriegebiet etwas weiter die Herzbergstraße hinauf abgesehen.
Hier stehen zwar noch einige Wohnhäuser, sogar ein Altbau hat gegenüber einer ehemaligen Margarinefabrik die DDR überlebt. Aber die Gebäude, die das Sammlerehepaar Barbara und Axel Haubrok, Architekt Arno Brandlhuber, die Künstler Christopher Roth und Nikolai von Rosen und der Journalist Georg Diez erworben haben, gehören zum Bestand der Betriebe, die hier einmal geführt wurden. Einige Jahre ist das nun schon her. Nun aber soll sich etwas regen in diesem rauen und harten Teil von Lichtenberg. Corinna Hoffmann, heißt es, habe sich nun auch in den Wilden Osten vorgewagt. Die Tochter von Erika und Rolf Hoffmann, deren Kunstsammlung in den Sophie-Gips-Höfen in Mitte ausgestellt wird, hat gerade das Grundstück Herzbergstraße 125–126a gekauft. In Berlin-Mitte hat sie ein großes Haus zwischen Torstraße und Linienstraße umbauen lassen, in dem man die schönsten Swimmingpool- und Dachterrassen-Abende verbringen kann. Damit wächst der Personenkreis, der sich vom alten Kunstzentrum Mitte verabschiedet, sich lieber in die Nähe von Schrotthändlern und Autowerkstätten und Plattenbausiedlungen begibt, als der Fertigstellung des Berliner Stadtschlosses (Franco Stella) oder dem Bau eines weiteren Shopping- und Erlebniszentrums, dieses Mal inklusive Surfwelle (Jürgen Mayer H.), zuzuschauen. Wohin wird das die neue Nachbarschaft führen?
Das ehemalige Gelände der VEB Elektrokohle Lichtenberg, des einzigen Betriebs, der die DDR mit Grafit versorgte: über der Einfahrt steht ein Rundbogen mit dem Schriftzug „Dong Xuan Center“, dahinter liegt eine Riesenfläche, auf dem ein vietnamesischer Großmarkt eingerichtet wurde. In die vielen langen weißen Lagerhallen tauchen täglich Hunderte von Menschen ab, um hier Gemüse, Plastikspielzeug, Klamotten, Pflanzen, Möbel, Kabel, Fernseher zu kaufen, zum Friseur, ins Nagelstudio oder zur Massage zu gehen. An jedem Eingang und zu den Seiten werden Suppenküchen und Restaurants betrieben, Holzbänke und Plastiktische stehen da direkt neben einem Parkplatz, auf dem gefühlt Tausende parken können. Hinter den Hallen weg von der Herzbergstraße hinein in die große Industriebrache wurde die Erde mit Beton versiegelt, um zu verhindern, dass die Chemikalien, die hier einmal zum Einsatz kamen, ins Grundwasser durchsickern. Im Mai 2016 verbrannte eine knapp 4.000 Quadratmeter große Halle, in der 22 Gewerbetreibende Lagerflächen angemietet hatten und mit allerlei giftigem Zeug hantierten. Erst dahinter trifft man auf zärtliche Hinweise – Spuren einer Oase.
Der grüne Palmen-Wasserquelle-Hängematten-Lebensretterfleck in der Wüste ist tatsächlich der einzige Vergleich, der einem zu dem einfällt, was einem hier begegnet. Hinter einem Bauzaun stehen Topfpflanzen, und zwischen zwei Betontürmen wächst Gras auf einem Schuttsandhügel. Christopher Roth wünscht sich Ziegen als Mitbewohner. Er ist einer der Eigentümer des ersten Betonturms, der zum Lager erklärt wird, in dem er aber auch arbeiten, schlafen, wohnen und vor allem denken könnte. Der Elfenbeinturm stand den Produktionsstätten und Arbeitern jedenfalls noch nie so nah wie hier. Ins Erdgeschoss des zweiten ist ein großes Loch eingelassen. „Es wurde wohl für die Lastzüge gebraucht, die den Grafit durch den Turm transportierten“, erzählt Arno Brandlhuber. „Vielleicht könnte man es mit Süßwasserfischen bevölkern – das Grundwasser steigt sowieso die ganze Zeit nach oben – und ein Fischrestaurant eröffnen!“
In Brandlhubers Büro in der Brunnenstraße steht das Modell des Turms, der dem Architekten gehört. Er könnte Platz für eine Werkstatt, ein Office oder auch für Ausstellungen bieten. Das alles wird zurzeit von Brandlhuber und seinem Team in Erwägung gezogen. Sein Turm besteht im Unterschied zum anderen nur aus zwei Etagen; genutzt werden soll voraussichtlich vor allem die Ebene direkt unterm Dach. Man würde es über eine Freitreppe quer durch den Raum erreichen und so hoch über der Stadt stehen, dass man bis zum Teufelsberg im Westen Berlins schauen kann. (Würde man ein Kaugummi auf den Boden spucken, bräuchte es länger als drei Sekunden, um anzukommen – die beiden Türme sind über 45 Meter hoch, die Hochhausgrenze in Berlin liegt bei 22 Metern.) Zwischen ehemaliger Abhörstation der Amerikaner und Elektrobetrieb der DDR würde sich plötzlich eine Blickachse ergeben; aber das Gespräch zwischen Ost und West, die schöne Wiedervereinigung ist kein Bild, das Brandlhuber anstrebt: Er nennt die Türme San Gimignano, will also eher Toskana-Feeling als Denkmalatmosphäre.
Allein ist er damit in diesem Bezirk Lichtenberg ja auch nicht. Auf der Landsberger Allee, der breiten Zufahrtsstraße von Friedrichshain/Prenzlauer Berg, richtete Hinrich Baller Ende der Neunzigerjahre das Castello ein: eine Art Märchenburg, in der man oben wohnen und unten shoppen kann. Es steht mit seinen verzierten Geländerchen, grünen Wieschen und gläsernen Pyramidchen wie ein von einem Kind vernachlässigtes Spielzeug zwischen den ganzen Plattenbauten – zu allem Überfluss hängt im Garten eine Mini-Stoffmaus kopfüber auf einem Balken. Menschen sieht man hier an einem Nachmittag im Mai keine. Der Einzug der Kunst und Kultur in dieses oder jenes Viertel ist ja an und für sich immer dieselbe schöne Geschichte, die dazu führt, dass teure Modegeschäfte und hässliche Coffeeshops nachziehen und die Bewohner vertreiben, was wiederum die linken Lager ärgert. Meistens steigen die Mieten, immer fällt das alles erklärende Wort „Gentrifizierung“.
Für Lichtenberg aber sind die Neuankömmlinge eher die Herzschrittmacher, die dem Bezirk bislang fehlen. Das Problem ist nur, dass es im Herzbergstraßen-Viertel eigentlich gar keine Bewohner geben soll. Auf dem Gelände der sogenannten Fahrbereitschaft, das Axel Haubrok bezogen hat, wurden die Autos der DDR geparkt und auf Vordermann gebracht, mit denen das hohe Personal der Republik durch die Gegend chauffiert wurde. Es gibt rund um das Hauptgebäude einen großen Garagenhof, Autowerkstätten, Pförtnerhäuschen und in einem Seitengebäude noch eine Kegelbahn für das Feierabendvergnügen. Selbst das Mobiliar aus dem Palast der Republik, erzählt Haubrok, befinde sich in Lagerräumen auf dem Gelände. Einige der Unternehmen, etwa der Arbeiter-Samariter-Bund, gehören seit Jahren zu den Mietern. Dass ein Sammlerehepaar, das Konzeptkunst liebt (auf dem Hof hört man eine Stimme, die Ziffern aus On Kawaras Kunstbuch One Million Years vorliest), Künstlern nun Werkstätten vermietet, ihnen sogar eine neue Halle von Arno Brandlhuber schenkte, die gerade eingeweiht wurde, ist eben nicht selbstverständlich. Voraussichtlich soll sogar eine weitere Ausstellungshalle
gebaut werden.
Haubrok will, im Unterschied zu anderen Sammlern, kein solitäres Privatmuseum einrichten – Rahmenbauer und Architekten, Tontechniker, Fotografen, Mechaniker und Künstler können sich ab sofort in der sanierten Fahrbereitschaft jederzeit zur Hand gehen. Allein für diese Haltung sollte das Sammlerehepaar einen Preis bekommen. Aber viele aus Bezirks- und Senatsämtern scheinen das Bauhauswesen entweder vergessen zu haben oder von einem Beschützerinstinkt gegenüber den Industrie- und Gewerbebetrieben getrieben zu sein, die hier seit mehr als hundert Jahren werkeln: von Siemens über VEB Elektrokohle Lichtenberg, von besagter Margarinefabrik über Metall- und Holzfabriken bis hin zu Schrotthändlern und Autowerkstätten. Die machen alle Dreck und Lärm, und dagegen kann die Kultur- und Dienstleistungsgesellschaft, sollte sie sich davon belästigt fühlen, theoretisch klagen. Deshalb ist auch die Kunst in diesem Stadtteil von Lichtenberg eigentlich kein willkommener Gast – mehr.
Vor dem Dong Xuan Center steht noch das Kulturhaus des VEB Elektrokohle Lichtenberg, in dem 1989 die Einstürzenden Neubauten ihr erstes Konzert im Osten gegeben haben – und das beweist, dass in dieser Gegend nicht nur geschuftet, sondern auch getanzt und musiziert und konferiert wurde. In der Herzbergstraße 123 sitzen zudem Filmleute, andere Häuser werden von Musikern besetzt, und in der Margarinefabrik haben sich bereits vor Jahren Künstler eingemietet. Auch ein Catering Service ist hier gerade eingezogen, der Veranstaltungen in der Stadt mit Steaks und Gnocchi versorgt, diese sogar zu einem Spottpreis als Mittagstisch anbietet. Auch hat der Bundesrat gerade ein Gesetz verabschiedet, das sogenannte „urbane Gebiete“ erfassen wird: „Der neue Baugebietstyp erlaubt den Kommunen, dass künftig auch in stark verdichteten städtischen Gebieten oder in Gewerbegebieten Wohnungen gebaut und Gebäude als Wohnraum genutzt werden dürfen“, heißt es in einem Artikel auf bundesregierung.de. Aber die Pioniere, nein Hüter des alten Berliner Punk-Geistes werden sich trotzdem weiter mit den Bauämtern herumschlagen müssen. Auf dem Grundstück von Corinna Hoffmann stehen einige der wenigen verlassenen Wohnhäuser des Viertels. Ob man darin in Zukunft schlafen und speisen oder sogar schwimmen darf, entscheidet hoffentlich keiner, der keinen Gin Tonic mag. „Gin Tonic is anti-connoisseurship“, schrieb Georg Diez einmal: „You cannot hide behind bullshit. There is a certain emancipatory spirit in it that is rare.“
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