From Paris with Love
Unsere Autorin Jana Herrmann über ihre Wahlheimat seit dem 13. November
Noch vor zehn Tagen machte ich gemeinsam mit 70.000 Menschen die La-Ola-Welle im fast ausverkauften Stade de France, und nun fürchte ich die Personen, die zufällig neben mir in der Metro sitzen, an der Kasse im Supermarkt stehen oder mir auf der Straße entgegenkommen. Mein Alltag hat sich seit den Anschlägen am 13. November völlig verändert – à votre santé!
Dass Paris einer erhöhten Terrorgefahr ausgesetzt ist, wurde gerade in den vergangen Wochen wieder ganz deutlich: schwer bewaffnete Polizisten, Eingangskontrollen vor Einkaufszentren und Museen sowie Terror-Razzien waren für niemanden zu übersehen. Nur hat sich Paris seit den Anschlägen im vergangenen Januar so an die alltäglichen Sicherheitsvorkehrungen gewöhnt, dass selbst ihre massive Verstärkung keinen besonderen Grund zur Beunruhigung auslöste. Auch als die deutsche Nationalmannschaft am Nachmittag vor dem Spiel gegen Frankreich wegen einer Bombendrohung aus ihrem schicken Hotel in das in die Jahre gekommene Tenniszentrum Roland Garros evakuiert wurde, aus denen unsere Weltmeister dann fröhliche Selfies zwitscherten, dachte ich mehr an eine geplante Image-Kampagne als an eine ernstzunehmende Bombendrohung.
Der Albtraum, der real geworden ist
Doch dann kam die Nacht. Es kamen diese Nachrichten und Bilder von solch einer unvorstellbarer Brutalität und Unbarmherzigkeit, dass sie teilweise bis heute schwer zu begreifen sind. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, wenn so etwas genau vor deiner Haustür passiert. An Orten, die du regelmäßig aufsuchst. In der Stadt, die die Freiheit und das Leben liebt und lebt. Es fühlt sich an wie ein furchtbarer Albtraum, der Realität geworden ist und mit jeder neuen Meldung und jedem weiteren Detail noch viel schlimmer wird. Ich trauere um die Opfer, die ich nicht kannte, und mit den Freunden und Kollegen, die ihnen nahestehende Menschen für immer verloren haben. Die zahlreichen Nachrichten von Familie und Freunden, die sich um mich sorgen, berühren mich zutiefst.
Eine Stadt trägt Trauer
Doch auch unser Alltag ist seitdem bedrückend anders. Die sonst immer gut besuchten Lokale sind menschenleer, in der Metro herrscht eine noch nie so dagewesene Stille, aber dafür heulen 24 Stunden am Tag die kreischenden Sirenen der Polizeiautos. Die Leute sehen müde und traumatisiert aus, in den Apotheken werden Beruhigungs- und Schlafmittel knapp. Eine ganze Stadt trägt Trauer. Es sind diese Tatsachen und Zeilen wie diese, die der Terrormiliz IS momentan sicherlich größte Befriedigung verschaffen.
Weiter mit Wut im Bauch
Doch halt. Es geht weiter! Langsam steigen immer mehr Pariser wieder in die Metro. Gehen wieder aus. Setzen sich auf Terrassen. Tanzen auf Konzerten und auf der Straße. Fangen an, das Geschehene mit einer Prise Humor zu verarbeiten. #jesuischien? Warum nicht? Auch ich gebe nicht auf. Ich gebe nicht klein bei. Im Gegenteil, die unglaubliche Wut in meinem Bauch macht mich größer: Ich stürze mich in die Arbeit und war in den letzten Tagen so produktiv wie selten in meinem bisherigen Arbeitsleben. Mein Chef freut sich. Seit den Anschlägen jogge ich nicht wie sonst nur einmal, sondern zweimal um das Marsfeld und den Eiffelturm, ganz dicht darum herum. Auch meine Appetitlosigkeit in den Tagen nach den Anschlägen hat ein paar Pfunde purzeln lassen; Weihnachten feiere ich mit einer Top-Figur.
Angst, der ständige Begleiter
Ich genieße es, in der endlich mal nicht überfüllten Metro in Ruhe Zeitung zu lesen und meinen Gedanken nachzugehen, ohne dass eine Tussi mir ständig ihre langen Haare ins Gesicht klatscht und mir bei jedem zweiten Halt auf den Fuß getreten wird. Ich freue mich, in den vergangenen Tagen mal wieder von einigen Personen gehört zu haben, die ich ein bisschen aus den Augen verloren hatte. Ich weiß jedoch auch, dass mir diese Haltung nicht helfen wird, sollte sich eines Tages ein entschlossen Durchgeknallter neben mich in die Metro setzen, an die gleiche Supermarktkasse stellen oder sich in dem Moment in die Luft sprengen, in dem ich ihm auf der Straße entgegenkomme. Diese latente Angst wird mich wohl eine Weile begleiten.
Das schöne Leben
Allerdings wird sie mich nicht daran hindern, wieder und weiterhin „Unzucht und Laster zu betreiben“– um es mit den Worten der Terrormilizen ausdrücken. Ich freue mich auf Champagner, Musik, Kunst, die Terrassen, Paris mon amour und die Fußball-Europameisterschaft 2016 in ganz Frankreich. Denn das Leben kann so schön sein.
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