imm cologne 2017: Midgard – Sammeln in Serie
Wiederbelebt: Die neuen Eigentümer der traditionsreichen Leuchtenfirma debütierten in Köln mit einer Reedition aus den Zwanzigern.
Nicht viele Menschen werden von einer Leidenschaft für einen einzelnen Gegenstand getrieben. Noch weniger dürften daraus ein Geschäft aufgebaut haben. Eine Sammlung aus weit mehr als 200 Industrieleuchten machte David Einsiedler und Joke Rasch zu den neuen Eigentümern der traditionsreichen Leuchtenfirma Midgard aus Thüringen. Mit der in den zwanziger Jahren entwickelten Maschinenleuchte stellten die Hamburger Möbelhändler und Einrichtungsplaner eine erste Reedition während der Kölner Möbelmesse vor.
Dass Curt Fischer an seinem Arbeitsplatz hauptsächlich in seinem eigenen Schatten stand, war dem Ingenieur auf lange Sicht zu dunkel. Als Inhaber einer Werkzeug- und Maschinenfabrik in Auma, südöstlich von Jena, entwickelte er aus eigenem Bedarf den ersten beweglichen Leuchtenarm, der eine zielgesetzte Ausrichtung des Lichts ermöglichte – und gründete bald darauf eine eigene Leuchtenfirma.
„Diese Idee stellte eine echte Neuerung für die damalige Zeit dar“, erklärt David Einsiedler, der zusammen mit Joke Rasch das Unternehmen vor eineinhalb Jahren übernommen hat. „Man muss bedenken, dass zu der Zeit das elektrische Licht noch neu war und es nur statische Leuchten ohne jegliche Bewegungsmöglichkeiten gab.“ Fischer brachte seine Erfindung soweit, den Betrieb zur Gänze auf die Herstellung von „lenkbarem Licht“ umzustellen und ihn ab 1919 unter dem Namen „Midgard“ weiterzuführen.
Das lenkbare Licht
„Funktionalität stand in allen Entwürfen Fischers im Vordergrund“, fährt Einsiedler fort. „Jede Leuchte musste einen bestimmten Zweck erfüllen.“ Neben der Mechanik der Leuchtenarme, die Fischer im Laufe der Jahre perfektionierte und weiterentwickelte, konstruierte er auch einen drehbaren paraboloiden Reflektor, der für blendfreies Licht sorgte. Seine erste Leuchtenserie entstand zu Beginn der zwanziger Jahre und sollte eine große Vorbildwirkung auf das Bauhaus in Dessau haben. Die multifunktionale Lenklampe mit gebogenem Rohrschaft fand nicht nur in der Einrichtung der Metallwerkstätten des Bauhaus Verwendung. Sie diente zugleich als Lehrobjekt für die Mitarbeiter, die sich mit der Entwicklung von modernen Leuchtkörpern beschäftigten.
Auf diesem Entwurf basierend folgte um 1930 die Maschinenleuchte, die sich sowohl durch ihre robusten und wartungsfreien Gelenke als auch durch ihre Modularität auszeichnete. In den 1950er Jahren kam die Federzugleuchte als dritte Serie hinzu. Sie erlangte jedoch ihren größten Bekanntheitsgrad in den 1970er und 1980er Jahren, als Midgard als enteigneter und anonymer DDR-Betrieb unter anderem für Ikea produzierte. Aufgrund des persönlichen Engagements von Curt Fischers Sohn Wolfgang, der das Unternehmen als Betriebsleiter in jenen Jahren weiterführte, war es damals möglich, dass sämtliche Rechte und Patente weiterhin im Besitz der Familie blieben – was sich nach der Wende als großer Glücksfall erwies.
Die Wiederbelebung
Als Midgard 2011 Insolvenz anmelden musste, da sich die Firma nach der Wende nie wieder ganz wirtschaftlich erholt hatte, machten David Einsiedler und Joke Rasch die Erben ausfindig. Die Gründer des Hamburger Unternehmens Ply, die seit vielen Jahren Industrieleuchten sammelten, wollten zunächst Investoren vermitteln, was jedoch im Sande verlief. „2014 nahmen wir die Gespräche wieder auf, eigentlich mit der Idee, eine der drei klassischen Leuchtenserien wieder aufzulegen,“ erzählt Einsiedler. „Die Gespräche endeten eineinhalb Jahre später mit der Übernahme des kompletten Unternehmens – mitsamt den Produktionsrechten an den drei Leuchtenserien, den Werkzeugen und einem riesigen Archiv voller Originalzeichnungen und anderen Papieren, wie zum Beispiel den Briefwechsel zwischen Curt Fischer und seinem Förderer Walter Gropius.“
Der eigentlich strapaziöse Part begann erst nach der Unterzeichnung des Vertrags. Nicht nur die Werkstatt musste von Thüringen nach Hamburg überführt werden, um die Montage in die unmittelbare Nähe zu verlegen. Auch mussten Produzenten in Deutschland gefunden werden, die mit den historischen Werkzeugen die Gelenke in Alu-Druckguss fertigen können, was sich als kompliziert herausstellte. „Unsere Originalwerkzeuge konnten zunächst auf keiner modernen Maschine verwendet werden, weil sich das Druckgussverfahren im Laufe der letzten Jahrzehnte von vertikal auf horizontal geändert hatte“, erläutert Einsiedler. „Nach einiger Recherche haben wir zum Glück einen Idealisten gefunden, der unser Ansinnen verstand und einen Adapter für die Werkzeuge baute.“
Im Sinne des Erfinders
Die Maschinenleuchte ist die erste der drei Leuchtenserien, die Einsiedler und Rasch in diesem Jahr reeditieren: Sie demonstriert besonders gut die Aktualität von Fischers Entwürfen. Als modulares System kann sie individuell als Tisch-, Steh-, Wand- oder Deckenleuchte zusammengesetzt werden. Die Armanzahl und -längen, Schirmtypen und drei Farbvarianten sind dabei frei wählbar und auch Sonderanfertigungen möglich. Bei relativ geringen Stückzahlen können selbst eigene Schirmformen gebaut werden, wie es schon Fischer seinen Kunden anbot, wie Einsiedler betont. „Curt Fischer war nicht nur ein sehr guter Ingenieur, sondern auch ein sehr guter Verkäufer, der für jede Architektenanfrage eine eigene Zeichnung anfertigte und jede erdenkliche Sonderversion baute – von angeschrägten Schirmen über Stoffschirme bis hin zu Pergamentschirmen, die er handkolorierte.“ Der Grundentwurf als offenes System zum Weiterdenken – diesen Ansatz von Curt Fischer haben auch David Einsiedler und Joke Rasch verinnerlicht. Hauptsache es funktioniert.
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