Stories

Jean Molitor: Dokumentarist der Moderne

Jean Molitor bereist die ganze Welt, um zu dokumentieren, wie sich die architektonische Moderne ausbreitete.

von Claudia Simone Hoff, 09.09.2019

Jean Molitor ist Fotograf und gern unterwegs. Sein Lieblingsprojekt: mit seiner Kamera Gebäude aus der Bauhaus-Zeit festzuhalten. Dafür bereist er die ganze Welt. Molitor war schon in Mexiko, Afghanistan und Indonesien, auf Kuba, in Russland und im Libanon. Wir haben ihn in Berlin und Jerusalem getroffen – auf der Suche nach neuen Motiven.

Angefangen hat alles in Burundi. Zugegeben, auf den ersten Blick ein ziemlich ungewöhnliches Land, um die Begeisterung für die architektonische Moderne des frühen 20. Jahrhunderts zu wecken. Doch Jean Molitor ist neugierig und abenteuerlustig. Also sagte er spontan zu, als ihn 2009 eine Freundin in das afrikanische Land einlud. Dort sollte er Gebäude aus den Vierzigerjahren fotografieren, die ganz offensichtlich vom Bauhaus beeinflusst waren und abgerissen werden sollten. Zwar bekam er kein Geld für den Job, doch „wenn mich etwas interessiert, dann ist mir alles egal“, sagt Molitor, der bis dahin nichts mit dem Thema zu tun hatte.

„Wohin der Wind mich weht“
Seit er in den späten Siebzigerjahren beim Fernsehfunk der DDR eine Ausbildung zum Fotografen absolviert hatte, arbeitete Molitor für Verlage, studierte Kunstfotografie bei Arno Fischer an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, war als Schiffskoch und Lastkraftfahrer unterwegs. 1990 konnte er sich seinen großen Traum erfüllen und endlich um die Welt reisen. Seither arbeitet Molitor als freiberuflicher Fotograf und Filmemacher – für Unternehmen, Verlage und fürs Fernsehen. Immer verfolgt er auch eigene Projekte, wobei sein Lieblingssujet die Abenteuer- und Straßenfotografie ist. „Wohin der Wind mich weht“, so sein Lebensmotto.

Größer als gedacht
Seit der Reise nach Burundi hat Jean Molitor die Architektur des frühen 20. Jahrhunderts – Klassische Moderne, Bauhaus, International Style – nicht mehr losgelassen. „Damals ist mir bewusst geworden, dass das Thema viel größer ist, als ich dachte“, erzählt er. Egal, wohin er reist, entdeckt er Relikte aus der Zeit – auch vor der eigenen Haustür. So stellte Molitor fest, dass sein Opa jahrelang in einer Bauhaus-Siedlung wohnte, nur hatte er davon als Jugendlicher nichts gewusst. „Mein Blick ist nun geschärft“, sagt er. Seit er vor fast zehn Jahren damit begann, sich für die Ausbreitung der architektonischen Moderne in der ganzen Welt zu interessieren, hat sich seine Arbeit ausgeweitet: Das fotografische Werk wird durch wissenschaftliche Recherchen ergänzt. Rund 400 Gebäude hat Molitor inzwischen dokumentiert, darunter nicht wenige aus der Bauhaus-Zeit wie das Haus am Horn in Weimar oder die Meisterhäuser und die Siedlung Törten in Dessau. Wann immer möglich, spricht er mit den Bewohnern der Gebäude, recherchiert in Archiven die dazugehörigen Informationen und hat bereits mehrere Bücher herausgebracht. Das ist auch insofern von Bedeutung, als dass viele der Gebäude nicht mehr existieren, weil sie zerstört wurden. Durch Molitors Fotografien sind sie dennoch für die Nachwelt gesichert. Das Schöne: Manch ein Gebäude entging durch seine Initiative der Abrissbirne.

Das Kunstprojekt bau1haus
Jean Molitors Dokumentations- und Kunstprojekt „bau1haus“ befindet sich noch in der Anfangsphase, irgendwann möchte der Fotograf auch das Innere der Gebäude festhalten. Zum 100. Geburtstag des Bauhauses in diesem Jahr konzipiert er weltweit Ausstellungen, die das komplexe Thema in die Architekturgeschichte einbetten – ermöglicht durch seinen riesigen Fundus an Architekturfotografien. Das Geld für die Reisen zusammenzubekommen ist nicht immer ganz einfach, gibt Molitor zu. „Doch wenn man ein Abenteurer ist, geht es vor allem ums Reisen, nicht um Absicherung“, sagt er lachend. Molitor ist immer wieder fasziniert davon, wie komplett anders ein Gebäude auf einem Foto wirken kann. „Es findet eine Konzentration statt“, erklärt er den Effekt. Gerade die Architektur des frühen 20. Jahrhunderts ginge im Alltag oft unter.

Die Wirkung eines Gebäudes in ein fotografisches Abbild umzusetzen, ist übrigens gar nicht so einfach. Das Wetter muss mitspielen, ziemlich oft stehen Sträucher und Bäume im Weg, manchmal braucht er eine Genehmigung zum Fotografieren. In manchen Ländern ist es sogar ziemlich gefährlich, offen mit einer Kamera herumzulaufen – Gefängnisaufenthalte Molitors und der Raub seiner Kameraausrüstung in St. Petersburg erzählen davon. Und doch treibt ihn das Jagdfieber – immer auf der Suche nach unentdeckten architektonischen Perlen. Die Verbindung aller fotografierten Gebäude – egal, in welchem Land sie stehen oder aus welcher Zeit sie stammen – ist eine gemeinsame Ästhetik, die er versucht abzubilden. Dabei sieht sich Molitor nicht als Dokumentarist, im Gegenteil: Die Fotos spiegeln seine eigene ästhetische Auffassung wider. Die konkrete Situation vor Ort, das Licht und die Vegetation empfindet er als Instrumente, deren Zusammenspiel auf dem Foto eine Sinnesfreude fürs Auge ergeben. „Das ganze Projekt lebt von einer enormen Geschwindigkeit“, sagt er zum Abschied und ist schon wieder auf dem Weg zum nächsten (Bauhaus-)Abenteuer.

Buchtipps
Jean Molitor
bau1haus – die moderne in der welt
Hrsg. Nadine Barth, Text(e) von Kaija Voss, Gestaltung von Julia Wagner grafikanstalt
Berlin (Hatje Cantz) 2018

Jean Molitor/ Kaija Voss
Bauhaus – eine fotografische Weltreise
Berlin (Bebra Verlag) 2018

Facebook Twitter Pinterest LinkedIn Mail
Links

Ausstellungen von Jean Molitor

bau1haus: die Moderne zwischen Berlin und Haifa/ bis 27.09.2019/ Rosa Luxenburg Stiftung, Berlin

www.rosalux.de

bau1haus trifft Hans Scharoun/ bis 28.09.2019/ Staatsbibliothek Berlin

staatsbibliothek-berlin.de

100 Jahre Bauhaus: Weltreise in die Moderne/ 14.09. bis 16.10.2019/ Kulturforum Schleswig-Holstein, Kiel

www.kulturforum-sh.de

bau1haus: Krefeld und die Welt/ 30.11. bis 22.12.2019/ Krefelder Kunstverein

krefelder-kunstverein.de

Mehr Stories

Perfect Days

Wim Wenders würdigt das Tokyo Toilet Project im Kino

Wim Wenders würdigt das Tokyo Toilet Project im Kino

Wrestling & Fabelwesen

Neues von der Design Miami und Alcova Miami

Neues von der Design Miami und Alcova Miami

Alles auf einmal

Die Bundeskunsthalle in Bonn feiert die Postmoderne

Die Bundeskunsthalle in Bonn feiert die Postmoderne

Ruf der Falte

Paravent-Ausstellung in der Fondazione Prada Mailand 

Paravent-Ausstellung in der Fondazione Prada Mailand 

Moderne Zeiten

100 Jahre Villa Noailles in Hyères

100 Jahre Villa Noailles in Hyères

Natur-Seele

Posthumes Geburtstagsgeschenk für Alvar Aalto

Posthumes Geburtstagsgeschenk für Alvar Aalto

Made in Lebanon

Die Beiruter Kreativszene zwei Jahre nach der großen Explosion

Die Beiruter Kreativszene zwei Jahre nach der großen Explosion

Blick nach vorn

Neues von der Sammlermesse Design Miami 2022

Neues von der Sammlermesse Design Miami 2022

Born in Beirut

Fünf Designpositionen aus dem Libanon

Fünf Designpositionen aus dem Libanon

Alles im Fluß

Keramikfieber auf dem London Design Festival 2022

Keramikfieber auf dem London Design Festival 2022

L'art de vivre en Provence

Architektur, Kunst & Lifestyle in Marseille und Umgebung

Architektur, Kunst & Lifestyle in Marseille und Umgebung

Orient! Express!

Reisen auf der Schiene wird mit Klasse neu belebt

Reisen auf der Schiene wird mit Klasse neu belebt

Unknown Unknowns

Die XXIII. Internationale Ausstellung der Mailänder Triennale ist eröffnet

Die XXIII. Internationale Ausstellung der Mailänder Triennale ist eröffnet

Best-of Pools

Vom Mini-Tauchbecken bis zum grenzenlosen Schwimmerlebnis

Vom Mini-Tauchbecken bis zum grenzenlosen Schwimmerlebnis

Schöne Tage in Antwerpen

Streifzüge durch die flämische Metropole

Streifzüge durch die flämische Metropole

Motion. Autos, Art, Architecture

Norman Foster kuratiert Ausstellung im Guggenheim Bilbao 

Norman Foster kuratiert Ausstellung im Guggenheim Bilbao 

Planet Plastik

Neue Ausstellung im Vitra Design Museum

Neue Ausstellung im Vitra Design Museum

Skulpturen für den Alltag

Museum Ludwig widmet Isamu Noguchi eine Retrospektive

Museum Ludwig widmet Isamu Noguchi eine Retrospektive

Alpine Sinnlichkeit

Entdeckungen auf der Sammlermesse Nomad St. Moritz

Entdeckungen auf der Sammlermesse Nomad St. Moritz

Wohnen als Gesamtkunstwerk

Ettore Sottsass’ Casa Lana in der Mailänder Triennale

Ettore Sottsass’ Casa Lana in der Mailänder Triennale

Keramik, Pop und NFT

Neues von der Sammlermesse Design Miami 2021

Neues von der Sammlermesse Design Miami 2021

Inspiration, Innovation, Interiordesign pur

Die imm cologne vom 17. - 23. Januar 2022 in Köln

Die imm cologne vom 17. - 23. Januar 2022 in Köln

Hyper, Hyper

Der Concorso d’Eleganza rehabilitiert die Autos der Neunzigerjahre

Der Concorso d’Eleganza rehabilitiert die Autos der Neunzigerjahre

Revival im Raster

Quadratische Fliesen erobern die Interiorwelt

Quadratische Fliesen erobern die Interiorwelt

Zeitloser Funktionalismus

Mid-Century in der zeitgenössischen Innenarchitektur

Mid-Century in der zeitgenössischen Innenarchitektur

Supersalone 2021

Die Highlights aus Mailand

Die Highlights aus Mailand

Aufstieg der Superkisten

Spektakuläre Biwakarchitektur im Hochgebirge

Spektakuläre Biwakarchitektur im Hochgebirge

Kontext statt White Cube

Designmesse Nomad im größten Engadiner Patrizierhaus

Designmesse Nomad im größten Engadiner Patrizierhaus

Maßstab Mensch

Rückblick auf unsere Veranstaltung zu Themen der Innenarchitektur

Rückblick auf unsere Veranstaltung zu Themen der Innenarchitektur

Roboter, Cyborgs, Urhütten

Die Architekturbiennale 2021 in Venedig

Die Architekturbiennale 2021 in Venedig