Koolhaas + LeWitt: Undercover in Milano
Between the Lines: Rem Koolhaas probiert sich als Ko-Kurator.
Rem Koolhaas wirft einen Blick über den Tellerrand der eigenen Profession und hat in Mailand die Ausstellung „Between the Lines“ ko-kuratiert. Sie soll das Werk des US-amerikanischen Künstlers Sol LeWitt aus der Rationalismus-Ecke holen und lädt nebenbei zur kunstgetränkten Erkundungstour eines Renaissance-Gemäuers ein.
Es ist Donnerstagmittag im großen Saal des Palazzo Visconti in Mailand. Wo einst die Regenten der Stadt logierten und rauschende Feste veranstalteten, drängt sich die Presse, als hätten die Beatles eine neue Tournee angekündigt. Ziemlich großer Bahnhof für eine kleine Ausstellung, die im winzigen Nachbargebäude des Palazzo Visconti eröffnet: der von der Fondazione Carriero bespielten Casa Parravicini. Der künstlerische Leiter der Stiftung heißt Francesco Stocchi und ist zugleich Kurator am Rotterdamer Boijmans Van Beuningen Museum, wo er mit dem Auslöser für diese ganze Aufregung in Kontakt kam: Rem Koolhaas.
Gemeinsame Flucht
Zwei Jahre währte die Vorbereitung der Ausstellung „Between the Lines“, mit der das Duo eine neue Perspektive auf das Werk von Sol LeWitt (1928-2007) geben möchte. Doch natürlich geht es am Anfang erst einmal um die Akteure selbst: Denn Koolhaas übernimmt NICHT den Part des Ausstellungsgestalters (auch wenn er es zum Schluss doch getan hat), sondern eine gleichberechtigte Rolle als Ko-Kurator. „Wir sind beide keine Gefangenen unserer Profession. Ich habe in meinem Leben viele Dinge gemacht, um von der Architektur zu flüchten. Und Francesco hat viele Dinge gemacht, um vom Kuratieren zu flüchten“, erklärt der schlaksige Niederländer und verbittet sich sogleich sämtliche Fragen, die nur an ihn als Architekten gerichtet sind.
Emotionaler Purismus
Worum es ihm geht, ist die Deutung. „Ich war immer skeptisch in der Darstellung von Sol LeWitt als Rationalist oder jemand, der mit dem Minimalismus verbunden war. Diese Ausstellung liest ihn ganz bewusst als einen Postmodernisten, der kraftvolle, emotionale Aspekte in seiner Arbeit zeigt“, sagt Rem Koolhaas, der in den Siebzigerjahren in New York gelebt hat und dabei mehrfach in Kontakt mit LeWitt gekommen war. Der Zugang der Ausstellung erfolgt über den Raum. Die 500 Quadratmeter große Casa Parravicini gehört zu den ältesten Mailänder Wohnhäusern aus dem 14. Jahrhundert und befindet sich bis heute in Familienbesitz. 1991 wurde das Haus von Gae Aulenti in die Büroräume einer Privatbank umgebaut. Seit 2015 dient es als Ausstellungszentrum der Fondazione Carriero.
Räumliche Erkundung
Es sind kleine, verwinkelte Räume, die sich über zwei Etagen erstrecken. Anders als die schweren, backsteinernen Außenmauern vermuten lassen, warten die Innenräume mit glatten, klinisch weißen Wänden auf. Auf Tuchfühlung mit der Architektur gehen dreizehn Skulpturen und sieben Wall Drawings, die eine Spanne von vier Jahrzehnten überbrücken. Bei den Wandzeichnungen hatte LeWitt lediglich in Textform die Anordnung der Stiche sowie die Auswahl des jeweiligen Zeichenmediums definiert. „Die Wall Drawings können immer wieder aufs Neue ausgeführt werden, ganz gleich von wem, ganz gleich auf welchem Untergrund. LeWitt hat mit dieser radikalen Innovation die Unsterblichkeit zum Teil seiner Arbeit gemacht“, betont Francesco Stocchi.
Die Zeichnungen bespielen keineswegs nur die Wände des Ausstellungsgebäudes, sondern im ersten Obergeschoss auch einen freistehenden, polygonalen Körper. Mit seinen gefalteten Außenseiten erinnert er an eine Mischung aus LeWitts Skulptur Complex Form #34 und Koolhaas’ Casa da Música in Porto – womit die Grenzen zwischen Künstler, Kurator und Ausstellungsarchitekt endgültig verschwimmen. „Wir haben mit Sol LeWitt die unterschiedlichen Bedingungen untersucht, die in diesem Gebäude präsent sind. Umgekehrt haben wir das Gebäude benutzt, um die Potenziale im Werk von LeWitt zu untersuchen“, erklärt Rem Koolhaas das Konzept.
Italienischer Kulissenzauber
Eine weitere Intervention findet sich in einem Seitenraum des Erdgeschosses. In die weiße Umgebung hat das Kuratoren-Doppel eine aus Gipskarton gebaute Fensternische eines stilisierten Renaissance-Palazzos eingefügt. Ihre Künstlichkeit offenbart die Konstruktion an den beiden Außenseiten, wo Aussparungen für die Heizkörper die angeblichen Mauern durchdringen. Auch hier ist eine weitere Wandzeichnung zu sehen, die mit reichlich Kulissenzauber aus der Sterilität des White Cube befreit wird. Das Palazzo-Motiv ist eine Anspielung auf die Italienaffinität LeWitts, der einige Jahre in Bari gewohnt und auch in anderen Regionen der Apenninenhalbinsel Projekte realisiert hat.
Schwebender Zaun
Im zweiten Obergeschosses setzen Fresken und Deckenornamente einen Kontrapunkt zum kühlen Weiß der anderen Räume. Eine komplett verspiegelte Wand verdoppelt die Raummaße und fängt zugleich die Besucher ein. Auf der Spiegelwand ist LeWitts Wall Drawing #1104 zu sehen, das bereits in seiner ursprünglichen Komposition mit schwarzem Filzstift auf reflektierendem Grund ausgeführt werden sollte. In der Mailänder Ausstellung verwandelt sich die Zeichnung in einen filigranen Zaun, der zwischen Decke, Boden und den beiden Seitenwänden eingefasst ist. Der Purismus klarer Linien wird dabei nicht nur mit der sinnlichen Opulenz des Ortes aufgeladen. Das Zweidimensionale wird ebenso in den Raum erweitert: ein Aspekt, der tatsächlich einen anderen Blickpunkt auf die Arbeiten LeWitts eröffnet – nicht obwohl, sondern gerade weil einer der beiden Kuratoren Architekt ist.