Normale Abnormität
Designstadt Mailand steht plötzlich still
Die Nachrichten zur Coronakrise überschlagen sich. Im Minutentakt werden wir mit neuen Infos gefüttert – die Pandemie ist längst zur Hysterie geworden. Was Deutschland, Österreich und Frankreich nun durchleben, ist in Italien schon seit zwei Wochen Realität. Ein Protokoll aus Mailand – einer Stadt, die plötzlich nicht mehr dieselbe ist und dennoch ihre Contenance bewahrt.
Auf einmal geht alles ganz schnell. Es ist Freitag während Mailänder Modewoche, der 21. Februar. Zwischen zwei Schauen ein kurzer Abstecher in die Cardi Galerie im Norden des Brera-Viertels. Der sonst so freundliche Manager läuft mir mit erhobenen Armen entgegen, bloß kein Händeschütteln, keine Umarmung: „Es ist soweit, das Virus lauert vor der Stadt“, ruft er schon von weitem. Die Sache klingt maßlos übertrieben. Ein schneller Blick ins Netz gibt ihm Recht, in einigen Vororten wurden Fälle gemeldet. Doch noch ist das Medienecho gering. Ein Grund zur Panik? Zwei Stunden später bei der Versace Show: Alle sitzen dicht gedrängt wie Hühner auf der Stange, niemand macht sich darüber Gedanken. Das Coronavirus scheint weit weg – genau wie all die chinesischen Einkäufer und Pressevertreter, die sonst in Scharen nach Mailand strömen und diesmal fehlen. Italien hatte als erstes europäisches Land die Flugverbindungen nach Asien gekappt.
Auch der nächste Tag verläuft wie immer. Bottega Veneta, Missoni, Philipp Plein. Am Abend große Partys. Noch in der Nacht kommt eine Eilmeldung von Giorgio Armani. Die für Sonntagnachmittag geplante Show findet ohne Publikum statt. Der Meister will kein Risiko eingehen, für die Gäste, für die Mitarbeiter, für sich selbst. Rätselraten und leichte Verunsicherung bei der Boss Show am nächsten Vormittag. Alle wollen weg. Zwei Stunden später starten Dolce&Gabbana überpünktlich wie sonst keine Modenschau in Mailand. Jeder will das nächste Flugzeug erreichen, alle weiteren Termine für den Tag sind abgesagt. Die Panik vor dem Virus ist da – und die Straßen von Mailand sind plötzlich leer.
Es ist verrückt, wie innerhalb von 36 Stunden eine Stadt in einen neuen Modus geworfen wird. Hamsterkäufe noch am selben Tag. Pasta, Mehl, Wasser und Toilettenpapier sind weg. Alles aus den Frischeregalen. Das Einzige, was niemand angerührt hat, ist Wein. Ich verlasse mit einer Flasche Nebbiolo das Geschäft. Immerhin etwas. Und beschließe, in Mailand zu bleiben und nicht nach Berlin zurückzufliegen. Kann man denn ausschließen, dass man sich bereits infiziert hat? Nach einer Woche Modenschauen und Präsentationen, mehrfach am Tag mit Tausend Menschen auf engem Raum? Immerhin dauert die Inkubationszeit ja zwei Wochen.
Am Dienstag dann die Nachricht, dass der Salone del Mobile in den Juni verschoben wird. Zweifel an diesem Termin machen sich breit. Und viele in der Designszene tragen Sorge, weil sich die gewählten Tage mit der Männermodewoche überlagern und nicht alle Locations, die sonst zum Fuori Salone genutzt werden, rechtzeitig frei sein werden. Verunsicherung aber auch, ob bis dahin die Krise überstanden sein wird. Ist Juni nicht allzu ambitioniert? Wäre September nicht klüger?
Die Mailänder Designbüros arbeiten indessen weiter, die Firmen in der Brianza ebenso. „Wir versuchen, das Beste daraus zu machen. Wir haben nun mehr Zeit, die Dinge fertig zu stellen und zu fotografieren. Zum ersten Mal werden wir einen Katalog fertig haben“, sagt Britt Moran von Dimorestudio beim Interviewtermin in ihren Studioräumen. Ein Tag später bin ich mit Robin Rizzini von Metrica Design verabredet. Lieber nicht im Büro, sondern in der Stadt. Wir treffen uns unter der Nudel-Skulptur an der Piazza Cadorna und gehen hinüber zum Café Magenta, einem schönen Jugendstil-Relikt, wo sonst nur selten ein freier Platz zu ergattern ist. Der Raum ist menschenleer. Eine unwirkliche Szenerie.
Der Designer ist mit einem Brompton-Klappfahrrad gekommen. In die U-Bahn oder Straßenbahn traut sich niemand mehr, ganz Milano ist plötzlich zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs. Zum Glück liegen viele Destinationen in der Stadt in Laufweite. Dass die Bars für drei Tage schließen mussten, wird schnell wieder aufgehoben. Die Stadtverwaltung hat den Ernst der Lage noch nicht überblickt. Zumindest am Abend scheint im Ausgehviertel Navigli alles beim Alten. Entlang der Kanäle sind die Tische voll besetzt, das Wetter ist ungewohnt mild für Ende Februar, beinahe frühlingshaft. Doch es währt nicht lange.
Am folgenden Samstag tritt Ministerpräsident Giuseppe Conte mit langer Miene vor die Kameras. Die Lombardei wird zu Sperrzone erklärt. Keine Reisen sind mehr möglich. Die Geschäfte haben noch geöffnet. Restaurants, Bars und Cafés lediglich bis 18 Uhr, vorausgesetzt, die Tische stehen mindestens einen Meter auseinander, was tatsächlich eisern umgesetzt wird. Drei Tage später ist alles zu. Die gesamte Gastronomie, Kinos, Schulen, Universitäten, Theater, die Scala, alle Geschäfte außer Apotheken, Lebensmittel- und Tabakläden. Über Milano hängt eine Ausgangssperre. Nur für die alltäglichen Erledigungen oder den Weg zur Arbeit dürfen die Menschen aus dem Haus. Viele Designer haben die Büros für zwei Wochen geschlossen, Rodolfo Dordoni ist einer von ihnen. Die Firmen produzieren unterdessen weiter. Bloß nicht aufgeben!
Seither ist Mailand eine Geisterstadt, die sonst wuselnde Piazzale Stazione Genova wie ausgestorben. Die wenigen Farbpunkte, die sich auf ihr bewegen sind die Rücksäcke der Lieferservice-Jungs, die nun mächtig in die Pedale treten. Man sollte ihnen allen einen Orden verteilen, weil sie die Stadt am Laufen halten. Denn nicht jeder hat die Zeit, einen halben Vormittag damit zuzubringen, selbst einkaufen zu gehen. In die Supermärkte werden nur wenige Personen hineingelassen. Die Eingänge überwachen Türsteher, als wären es Nachtklubs. Es muss ein Abstand von einem Meter gewahrt werden, die meisten Mailänder verdreifachen diesen Wert – oder gehen noch weiter auf Distanz. Die Schlangen sind ermüdend lang. Die Anzahl der Maskenträger nimmt unterdessen ständig zu. In den ersten Tagen waren sie restlos ausverkauft. Der Nachschub rückt langsam an. Einige Apotheken verkünden auf Schildern, dass nun auch Handreinigungsgel wieder erhältlich ist.
Und die Mailänder? Sie singen nicht am Fenster wie halb Neapel oder Siena gemeinsam im Chor. Sie öffnen um 18 Uhr für eine Stunde die Fenster oder Balkontüren und drehen laut Musik auf. Nicht alle gleichzeitig, meist übernimmt eine Wohnung pro Haus (entweder wer zuerst war oder die wirkungsvolleren Bassboxen besitzt) die Initiative. Adriano Celentano, Spice Girls oder Pavarotti sind zu hören, einige singen mit. Noch kann sich die Stadt aber nicht auf einen Song pro Abend einigen. Da sind die Süditaliener tatsächlich disziplinierter. Auf dem Balkon des Nachbarhauses spielt eine Dame Klarinette. Von weitem, man hört es nur und sieht es nicht, grollt sogar ein Schlagzeug.
Und noch etwas fällt auf in diesen Stunden der Dämmerung: Jetzt, wo eigentlich alle zuhause sein müssten, sind viele Fenster dunkel, die Jalousien heruntergefahren. Viele Mailänder sind geflüchtet in ihre Wochenendhäuser in den Bergen oder am Meer. Nur raus aus der Stadt, solange bis wieder Normalität einkehrt. Für die, die geblieben sind, heißt es: bloß nicht unterkriegen lassen! In diesem Optimismus sind die Italiener Weltmeister. Sie lassen sich von Erdbeben, einstürzenden Brücken, korrupten Beamten oder Politik-Clowns nicht aus der Fassung bringen. Das Coronavirus hat alle sprachlos gemacht. Aber nur für einen Moment. Ab 18 Uhr stehen sie wieder am Fenster.
FOTOGRAFIE Norman Kietzmann
Norman Kietzmann
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