Stories

Salone del Mobile 2016: Generische Imperfektion

Reeditiert, adaptiert und interpretiert: Die 55. Mailänder Möbelmesse sucht nach Archetypen.

von Norman Kietzmann, 21.04.2016

Die 55. Mailänder Möbelmesse hat einen neuen Rekord aufgestellt. Mit 372.000 Besuchern ist das gute Ergebnis von 2014, als die weltgrößte Möbelschau zuletzt von der Küchenmesse Eurocucina sowie der Bäderschau Salone del Bagno begleitet wurde, noch einmal übertroffen worden. Die Neuheiten versprechen eine Zeit ohne Zeit – und lassen alt und neu in einem Moment aufgehen.

Es ist voll in Mailand. Sehr voll. Doch trotz des Andrangs auf dem Messegelände und der abendlichen Cocktailrunden: extravagante Formen oder neue Lebenswelten sind auch auf diesem Salone del Mobile Fehlanzeige. Stattdessen dreht sich alles um die Verfeinerung von Proportionen, Materialien und Details. Die meisten Firmen kommen daher schnell auf den Punkt: Wenig Inszenierung, dafür viel Produkt. Ein wenig erinnert die Szenerie an das beliebte Kinderspiel „Finde den Fehler“ – wobei Fehler in diesem Falle das Neue oder besser gesagt die Abweichung von einer vertrauten Form bedeutet. 

Generisch lautet das Schlüsselwort, mit dem die meisten Hersteller und Designer nach Archetypen Ausschau halten. Selbst Philippe Starck, der bislang eher mit lauten Möbelskulpturen für Aufsehen sorgte, begibt sich mit seinen Stühlen Generic A und Generic C für Kartell auf die Spuren der Anonymität. Verkehrte Welt? Nicht ganz: „Wir müssen dafür sorgen, dass die Dinge lange halten: auf materieller, kultureller und gefühlsmäßiger Ebene. Das bedeutet Zeitlosigkeit“, gibt der Designkönig die Richtung vor. 

Versteckte Innovation
Dass Generisches keineswegs belanglos sein muss, zeigen Sam Hecht und Kim Colin mit ihrer Tisch-, Bank- und Regelkollektion Run für Emeco. Als Vorlage dienten öffentliche Möbel wie Kantinentische, Parkbänke oder Bibliotheksregale – deren Formen vereinfacht und damit universal einsetzbar gemacht wurden. Gefertigt wird die Kollektion aus recyceltem Aluminium – ergänzt um Elemente aus Zedernholz, Nussbaum oder Esche. Auch Vitra weckt mit einer Neuheit Vertrauen: Die Form des All Plastic Chair von Jasper Morrison ist einfachen Holzstühlen des 19. Jahrhunderts nachempfunden. Die Innovation besteht darin, dass das Möbel eben nicht aus einem Guss entstehen: Für Korpus, Sitzfläche und Rückenlehne kommen verschiedene Kunststoffe zum Einsatz – wodurch der Stuhl nicht nur stabil wird. Der entscheidende Aspekt offenbart sich im Gebrauch: Die sanft abgerundete Rückenlehne ist durch Gummipuffer leicht beweglich, während sich auch die Sitzfläche der Körperhaltung anpasst. Die Kombination aus beidem erzeugt einen unerwarteten Sitzkomfort.

Fehlende Ecken
Sinn für Details beweist Ron Gilad mit seinem Tisch Zero für Alias: An der Stelle, wo die quadratischen Tischbeine auf die horizontalen Träger der Tischplatte treffen, sind die Ecken ausgespart. Der leere Raum sorgt für neugierige Blicke und verleiht dem puristischen und hochfunktionellen Möbel eine fast schon poetische Leichtigkeit. Auf den Spuren der Moderne wandelt Piero Lissoni mit seiner Sofa-Kollektion Avio für Knoll International. „Sie basiert auf der Idee eines Tragbalkens aus Stahl, der über eine Reihe von Blattfedern unterschiedliche Elemente  trägt“, erklärt der Mailänder Gestalter. Mithilfe der Stahlfinger werden neben Sitzflächen und Rückenelementen auch Ablageflächen aus Stein, Holz oder Metall austariert. Um den modernistischen Anspruch zu betonen, konzipierte Rem Koolhaas den Messestand als Hommage an Mies van der Rohe. 

Von Brasilien bis China
Einen Schwenk zur brasilianischen Moderne vollzieht Konstantin Grcic mit seinem Daybed Ulisse für Classicon. Das aus massiver Eiche oder Nussbaum gefertigte Möbel erinnert an einen gespannten Bogen. Deutlich rauer wirkt die aus Gusseisen gefertigte Kollektion Brut, die Grcic – der omnipräsente Designer dieses Salone – für Magis entwarf. Auch hier dreht sich alles ums Generische: Bänke, die an Biergartenbestuhlung erinnern, treffen auf raue, werkbankähnliche Tische, die vor allem in der Kombination mit gläsernen Tischplatten einen spannungsvollen Kontrast eingehen. Da ist die ungelenke Mingx-Kollektion für Driade schon fast wieder vergessen. Grcic nahm sich hierfür ausnahmsweise nicht das Industrielle zum Vorbild, sondern chinesische Stühle aus der Ming-Dynastie. Das Ergebnis ist eine verkitschte Tisch-, Sessel- und Stuhlfamilie mit misslungenen Proportionen und ausgesparter Ergonomie.

Logistik im Kopf
Großformatige Wohnwelten sind zwar auch auf diesem Salone del Mobile zu sehen. Doch die Tendenz geht eindeutig in die umgekehrte Richtung. Runde und kompakte Möbel, wie der Beistelltisch Niobe, den Federica Capitano für Zanotta entwarf, finden in jeder Wohnung den richtigen Platz. Auch B&B Italia denkt im 50. Jubiläumsjahr nicht nur in großen Maßstäben und stellt mit Édouard ein betont kleinteiliges Sitzprogramm von Antonio Citterio vor. Die Besonderheit der Sofas liegt in einem asymmetrischen Knick, sodass sich das Möbel um einen kleinen Beistelltisch schmiegen kann. Kompaktheit wird auch bei Moroso groß geschrieben mit der Sushi-Kollektion von Edward van Vliet, deren Ästhetik beständig zwischen Manga-Comic und Süßigkeitengeschäft changiert. 

In dieselbe Richtung steuert Normann Copenhagen mit dem Ace Lounge Chair von Hans Hornemann. Dieser passt in einen kompakten Pappkarton hinein, kann wie ein Koffer nach Hause getragen und in nur fünf Minuten zusammengebaut werden. Die Vereinfachung der Logistik war auch für Ronan & Erwan Bouroullec ein wichtiges Thema. Ihr Sofa Can für Hay wird ebenfalls als kompaktes Paket geliefert und lässt sich leicht montieren und demontieren. Das Ziel: Mehr Beweglichkeit und eine deutliche Kostensenkung beim Transport, der vor allem bei großformatigen Möbeln zu hohen Aufschlägen führt.

Sinnliche Welten
Auffällig ist die Tendenz zu ganzheitlichen Wohnwelten. Nach den Erfolgen, die Hersteller wie Vitra oder Hay mit Accessoire-Artikeln machen, ziehen nun auch andere Marken nach. Es geht um Zugänglichkeit. Aber auch darum, sinnliche Welten zu erschaffen, die mehr Begehrlichkeit wecken als ikonische Einzelstücke. Fritz Hansen, bislang klar auf Möbel spezialisiert, lüftet im Mailänder Showroom die neue Accessoire-Linie Objects. Auch hier darf Nostalgie nicht fehlen: Das dänische Designbüro Studio Roso entwarf einen matten Spiegel, dessen aus Stahl gefertigte Front bereits eine regenbogenartige Patina annimmt. Jaime Hayon übersetzt einen Kerzenhalter aus dem 17. Jahrhundert in eine puristische Adaption für die Gegenwart. Einen Bogen zur eigenen Firmentradition schlägt die an Shaker-Möbel erinnernde Schalenserie Tray Stack, die aus demselben Furnierholz gefertigt ist wie die Rückenlehne von Arne Jacobsens Serie-7-Stuhl.
Terrazzo und Stracciatella
Weil sich die Formen weitestgehend zurücknehmen, rückt der Fokus auf die Oberflächen und Materialien. Massivholz, Marmor und Messing sind weiterhin stark vertreten. Doch es kommt auch zur Rückbesinnung auf etwas aus der Mode geratene Techniken. Max Lamb überzieht seinen Last Stool Splatter mit einer Email-Schicht, die an Stracciatella-Eis erinnert. Bei Magis setzt Jerszy Seymour mit seiner Tisch- und Stuhlfamilie Happy Endings ebenso auf gesprenkelte Oberflächen. Ein architektonisches Material transferiert Normann Copenhagen ins Möbeldesign: Terrazzo. Zum Einsatz kommen die aus Marmorresten gefertigten Oberflächen bei der Tischserie Terra, die der junge dänische Designer Simon Legald entworfen hat. Auch hier wird das Glatte und Perfekte zugunsten von haptisch strukturierten, vielfarbigen Oberflächen aufgegeben. Das Ziel: Weg vom starren Minimalismus, hin zu einer lebendigen, sprich imperfekten Mischung von Farben, Formen und Proportionen.

Lebendige Imperfektion
Souverän aus dem Lot geraten ist Fabio Novembres Sofa Adaption für Cappellini, das mit der einen Seite beinahe auf dem Boden aufliegt. Die anderen Seite wird dagegen von einem hohen Metallfuß austariert. Der Clou: Die Sitzfläche gleicht die Schräge des Möbels wieder aus – sodass Fehler und Lösung desselben Ursprungs sind. Auch das deutsche Label e15 – bisher ganz klar auf der puristischen Seite beheimatet – zeigt Mut zur Dekoration: Das von Philipp Mainzer und Farah Ebrahimi entworfene Sofa Kerman wird mit dem Stoffbezug Alice präsentiert, der eigens von einer belgischen Firma gewebt wurde und mit Dschungelpflanzen, Hirschen und Rehen überzogen ist. Nur wenige Messestände weiter sorgt Diesel mit dem Sofa Gimme Shelter für Aufsehen, das mit einem wilden Jacquard-Muster überzogen ist und so Palmen, Säulen und Leoparden zu einer düster-romantischen Szenerie verbindet. Ergo: Es darf wieder geträumt werden, ohne gleich in eine Ecke der Absonderlichkeiten gestellt zu werden.

Umgekehrte Wirkung
Was bleibt von dieser Messe? Zum einen die Erkenntnis, dass das Wohnen mehr denn je ein Patchwork aus unterschiedlichen Stilen, Stimmungen und Provenienzen ist. Attribute wie „alt“, „neu“, „reeditiert“, „adaptiert“ und „interpretiert“ werden nicht nur wild miteinander vermischt. Sie spielen im Grunde gar keine Rolle mehr. Alles ist alt. Alles ist neu. Alles ist adaptiert und interpretiert. Die Designer geben ihre Signatur damit an die Gemeinschaft ab. Klingt großzügig. Doch Signatur bedeutet auch Profil und Verbindlichkeit. Genau davon ist in Mailand wenig zu sehen. Das Generische wirkt an dieser Stelle in die entgegengesetzte Richtung: Es macht keinen Appetit auf die neuen Produkte. Es ist ein Plädoyer für den Antikmarkt.

Bildergalerie ansehen...

Mehr aus unserem Special zum Salone del Mobile 2016 finden Sie hier...

Facebook Twitter Pinterest LinkedIn Mail
Links

Special: Salone del Mobile 2016

www.designlines.de

Salone del Mobile

www.salonemilano.it

Salone del Mobile 2015

Schlümpfe im weißen Hemd

www.designlines.de

Salone del Mobile 2014

Zurück zum Pop

www.designlines.de

Salone del Mobile 2013

Die Contract-Connection

www.designlines.de

Salone del Mobile 2012

Die Reise nach Jerusalem

www.designlines.de

Salone del Mobile 2011

Links durch die Zeit

www.designlines.de

Salone del Mobile 2010

Die Abkehr vom Konzeptdesign

www.designlines.de

Mehr Stories

Schatz in der Fassade

Warum der Austausch historischer Kastendoppelfenster ein Fehler ist

Warum der Austausch historischer Kastendoppelfenster ein Fehler ist

Von rau bis hedonistisch

Wie verändert die Kreislaufwirtschaft das Interiordesign?

Wie verändert die Kreislaufwirtschaft das Interiordesign?

Neue Impulse setzen

DOMOTEX 2026 präsentiert sich mit erweitertem Konzept

DOMOTEX 2026 präsentiert sich mit erweitertem Konzept

Der Stuhl, der CO₂ speichert

Mit einer Sitzschale aus Papier setzt Arper neue Maßstäbe für nachhaltige Materialien

Mit einer Sitzschale aus Papier setzt Arper neue Maßstäbe für nachhaltige Materialien

Digitale Werkzeuge in der Innenarchitektur

Wie ein Schweizer Büro Planung, Präsentation und Produktion verbindet

Wie ein Schweizer Büro Planung, Präsentation und Produktion verbindet

Natursteinästhetik in Keramik

Fünf neue Oberflächen erweitern das Feinsteinzeug-Programm des Herstellers FMG

Fünf neue Oberflächen erweitern das Feinsteinzeug-Programm des Herstellers FMG

Creative Britannia

Unterwegs auf der London Craft Week und Clerkenwell Design Week

Unterwegs auf der London Craft Week und Clerkenwell Design Week

Auf stilvoller Welle

Ikonische Tischserie wave für exklusive Objekteinrichtungen von Brunner

Ikonische Tischserie wave für exklusive Objekteinrichtungen von Brunner

Spektrum der Ruhe

Wie nachhaltig sind farbige Möbel?

Wie nachhaltig sind farbige Möbel?

Rauchzeichen aus dem Abfluss?

Wie Entwässerungstechnik zur Sicherheitslücke beim Brandschutz werden kann

Wie Entwässerungstechnik zur Sicherheitslücke beim Brandschutz werden kann

Design als kulturelles Gedächtnis

Ausstellung Romantic Brutalism über polnisches Design in Mailand

Ausstellung Romantic Brutalism über polnisches Design in Mailand

Alles Theater

Dramatische Inszenierungen auf der Milan Design Week 2025

Dramatische Inszenierungen auf der Milan Design Week 2025

Zurück zur Kultiviertheit

Neues vom Salone del Mobile 2025 in Mailand

Neues vom Salone del Mobile 2025 in Mailand

Dialog der Ikonen

Signature-Kollektion JS . THONET von Jil Sander für Thonet

Signature-Kollektion JS . THONET von Jil Sander für Thonet

Leben im Denkmal

Ausstellung Duett der Moderne im Berliner Mitte Museum

Ausstellung Duett der Moderne im Berliner Mitte Museum

Mission Nachhaltigkeit

Stille Materialrevolutionen bei Vitra

Stille Materialrevolutionen bei Vitra

Zwischen Zeitenwende und Tradition

Unsere Highlights der Munich Design Days und des Münchner Stoff Frühlings

Unsere Highlights der Munich Design Days und des Münchner Stoff Frühlings

Spiel der Gegensätze

Best-of Outdoor 2025

Best-of Outdoor 2025

Outdoor mit System

Clevere Lösungen für Außenbereiche von Schlüter-Systems

Clevere Lösungen für Außenbereiche von Schlüter-Systems

ITALIENISCHE HANDWERKSKUNST

Mit Möbeln, Leuchten und Textilien gestaltet SICIS ganzheitliche Wohnwelten

Mit Möbeln, Leuchten und Textilien gestaltet SICIS ganzheitliche Wohnwelten

Glas im Großformat

Das Material Vetrite von SICIS bringt Vielfalt ins Interior

Das Material Vetrite von SICIS bringt Vielfalt ins Interior

Surrealistische Vielfalt in Paris

Highlights von der Maison & Objet 2025

Highlights von der Maison & Objet 2025

Aus der Linie wird ein Kreis

Reparatur und Wiederverwertung in der Möbelindustrie

Reparatur und Wiederverwertung in der Möbelindustrie

NACHHALTIGKEIT TRIFFT DESIGN

GREENTERIOR by BauNetz id auf dem Klimafestival 2025

GREENTERIOR by BauNetz id auf dem Klimafestival 2025

Flora und Fauna

Neues von der Design Miami 2024 und Alcova Miami

Neues von der Design Miami 2024 und Alcova Miami

Vom Eckkonflikt zum Lieblingsraum

Geschichte und Gegenwart des Berliner Zimmers in fünf Beispielen

Geschichte und Gegenwart des Berliner Zimmers in fünf Beispielen

Möbel als Kulturgut zelebrieren

COR feiert seinen 70. Geburtstag

COR feiert seinen 70. Geburtstag

Nachhaltig Platz nehmen

Vestre produziert die Sitzbank Tellus aus fossilfreiem Stahl

Vestre produziert die Sitzbank Tellus aus fossilfreiem Stahl

Historische Moderne

Best of Interior 2024 geht an das Studio AADA

Best of Interior 2024 geht an das Studio AADA

Design nach Wunsch

Zum individuellen Türgriff mit dem Online-Konfigurator von Karcher Design

Zum individuellen Türgriff mit dem Online-Konfigurator von Karcher Design