Salone del Mobile 2016: Generische Imperfektion
Reeditiert, adaptiert und interpretiert: Die 55. Mailänder Möbelmesse sucht nach Archetypen.
Die 55. Mailänder Möbelmesse hat einen neuen Rekord aufgestellt. Mit 372.000 Besuchern ist das gute Ergebnis von 2014, als die weltgrößte Möbelschau zuletzt von der Küchenmesse Eurocucina sowie der Bäderschau Salone del Bagno begleitet wurde, noch einmal übertroffen worden. Die Neuheiten versprechen eine Zeit ohne Zeit – und lassen alt und neu in einem Moment aufgehen.
Es ist voll in Mailand. Sehr voll. Doch trotz des Andrangs auf dem Messegelände und der abendlichen Cocktailrunden: extravagante Formen oder neue Lebenswelten sind auch auf diesem Salone del Mobile Fehlanzeige. Stattdessen dreht sich alles um die Verfeinerung von Proportionen, Materialien und Details. Die meisten Firmen kommen daher schnell auf den Punkt: Wenig Inszenierung, dafür viel Produkt. Ein wenig erinnert die Szenerie an das beliebte Kinderspiel „Finde den Fehler“ – wobei Fehler in diesem Falle das Neue oder besser gesagt die Abweichung von einer vertrauten Form bedeutet.
Generisch lautet das Schlüsselwort, mit dem die meisten Hersteller und Designer nach Archetypen Ausschau halten. Selbst Philippe Starck, der bislang eher mit lauten Möbelskulpturen für Aufsehen sorgte, begibt sich mit seinen Stühlen Generic A und Generic C für Kartell auf die Spuren der Anonymität. Verkehrte Welt? Nicht ganz: „Wir müssen dafür sorgen, dass die Dinge lange halten: auf materieller, kultureller und gefühlsmäßiger Ebene. Das bedeutet Zeitlosigkeit“, gibt der Designkönig die Richtung vor.
Versteckte Innovation
Dass Generisches keineswegs belanglos sein muss, zeigen Sam Hecht und Kim Colin mit ihrer Tisch-, Bank- und Regelkollektion Run für Emeco. Als Vorlage dienten öffentliche Möbel wie Kantinentische, Parkbänke oder Bibliotheksregale – deren Formen vereinfacht und damit universal einsetzbar gemacht wurden. Gefertigt wird die Kollektion aus recyceltem Aluminium – ergänzt um Elemente aus Zedernholz, Nussbaum oder Esche. Auch Vitra weckt mit einer Neuheit Vertrauen: Die Form des All Plastic Chair von Jasper Morrison ist einfachen Holzstühlen des 19. Jahrhunderts nachempfunden. Die Innovation besteht darin, dass das Möbel eben nicht aus einem Guss entstehen: Für Korpus, Sitzfläche und Rückenlehne kommen verschiedene Kunststoffe zum Einsatz – wodurch der Stuhl nicht nur stabil wird. Der entscheidende Aspekt offenbart sich im Gebrauch: Die sanft abgerundete Rückenlehne ist durch Gummipuffer leicht beweglich, während sich auch die Sitzfläche der Körperhaltung anpasst. Die Kombination aus beidem erzeugt einen unerwarteten Sitzkomfort.
Fehlende Ecken
Sinn für Details beweist Ron Gilad mit seinem Tisch Zero für Alias: An der Stelle, wo die quadratischen Tischbeine auf die horizontalen Träger der Tischplatte treffen, sind die Ecken ausgespart. Der leere Raum sorgt für neugierige Blicke und verleiht dem puristischen und hochfunktionellen Möbel eine fast schon poetische Leichtigkeit. Auf den Spuren der Moderne wandelt Piero Lissoni mit seiner Sofa-Kollektion Avio für Knoll International. „Sie basiert auf der Idee eines Tragbalkens aus Stahl, der über eine Reihe von Blattfedern unterschiedliche Elemente trägt“, erklärt der Mailänder Gestalter. Mithilfe der Stahlfinger werden neben Sitzflächen und Rückenelementen auch Ablageflächen aus Stein, Holz oder Metall austariert. Um den modernistischen Anspruch zu betonen, konzipierte Rem Koolhaas den Messestand als Hommage an Mies van der Rohe.
Von Brasilien bis China
Einen Schwenk zur brasilianischen Moderne vollzieht Konstantin Grcic mit seinem Daybed Ulisse für Classicon. Das aus massiver Eiche oder Nussbaum gefertigte Möbel erinnert an einen gespannten Bogen. Deutlich rauer wirkt die aus Gusseisen gefertigte Kollektion Brut, die Grcic – der omnipräsente Designer dieses Salone – für Magis entwarf. Auch hier dreht sich alles ums Generische: Bänke, die an Biergartenbestuhlung erinnern, treffen auf raue, werkbankähnliche Tische, die vor allem in der Kombination mit gläsernen Tischplatten einen spannungsvollen Kontrast eingehen. Da ist die ungelenke Mingx-Kollektion für Driade schon fast wieder vergessen. Grcic nahm sich hierfür ausnahmsweise nicht das Industrielle zum Vorbild, sondern chinesische Stühle aus der Ming-Dynastie. Das Ergebnis ist eine verkitschte Tisch-, Sessel- und Stuhlfamilie mit misslungenen Proportionen und ausgesparter Ergonomie.
Logistik im Kopf
Großformatige Wohnwelten sind zwar auch auf diesem Salone del Mobile zu sehen. Doch die Tendenz geht eindeutig in die umgekehrte Richtung. Runde und kompakte Möbel, wie der Beistelltisch Niobe, den Federica Capitano für Zanotta entwarf, finden in jeder Wohnung den richtigen Platz. Auch B&B Italia denkt im 50. Jubiläumsjahr nicht nur in großen Maßstäben und stellt mit Édouard ein betont kleinteiliges Sitzprogramm von Antonio Citterio vor. Die Besonderheit der Sofas liegt in einem asymmetrischen Knick, sodass sich das Möbel um einen kleinen Beistelltisch schmiegen kann. Kompaktheit wird auch bei Moroso groß geschrieben mit der Sushi-Kollektion von Edward van Vliet, deren Ästhetik beständig zwischen Manga-Comic und Süßigkeitengeschäft changiert.
In dieselbe Richtung steuert Normann Copenhagen mit dem Ace Lounge Chair von Hans Hornemann. Dieser passt in einen kompakten Pappkarton hinein, kann wie ein Koffer nach Hause getragen und in nur fünf Minuten zusammengebaut werden. Die Vereinfachung der Logistik war auch für Ronan & Erwan Bouroullec ein wichtiges Thema. Ihr Sofa Can für Hay wird ebenfalls als kompaktes Paket geliefert und lässt sich leicht montieren und demontieren. Das Ziel: Mehr Beweglichkeit und eine deutliche Kostensenkung beim Transport, der vor allem bei großformatigen Möbeln zu hohen Aufschlägen führt.
Sinnliche Welten
Auffällig ist die Tendenz zu ganzheitlichen Wohnwelten. Nach den Erfolgen, die Hersteller wie Vitra oder Hay mit Accessoire-Artikeln machen, ziehen nun auch andere Marken nach. Es geht um Zugänglichkeit. Aber auch darum, sinnliche Welten zu erschaffen, die mehr Begehrlichkeit wecken als ikonische Einzelstücke. Fritz Hansen, bislang klar auf Möbel spezialisiert, lüftet im Mailänder Showroom die neue Accessoire-Linie Objects. Auch hier darf Nostalgie nicht fehlen: Das dänische Designbüro Studio Roso entwarf einen matten Spiegel, dessen aus Stahl gefertigte Front bereits eine regenbogenartige Patina annimmt. Jaime Hayon übersetzt einen Kerzenhalter aus dem 17. Jahrhundert in eine puristische Adaption für die Gegenwart. Einen Bogen zur eigenen Firmentradition schlägt die an Shaker-Möbel erinnernde Schalenserie Tray Stack, die aus demselben Furnierholz gefertigt ist wie die Rückenlehne von Arne Jacobsens Serie-7-Stuhl.
Terrazzo und Stracciatella
Weil sich die Formen weitestgehend zurücknehmen, rückt der Fokus auf die Oberflächen und Materialien. Massivholz, Marmor und Messing sind weiterhin stark vertreten. Doch es kommt auch zur Rückbesinnung auf etwas aus der Mode geratene Techniken. Max Lamb überzieht seinen Last Stool Splatter mit einer Email-Schicht, die an Stracciatella-Eis erinnert. Bei Magis setzt Jerszy Seymour mit seiner Tisch- und Stuhlfamilie Happy Endings ebenso auf gesprenkelte Oberflächen. Ein architektonisches Material transferiert Normann Copenhagen ins Möbeldesign: Terrazzo. Zum Einsatz kommen die aus Marmorresten gefertigten Oberflächen bei der Tischserie Terra, die der junge dänische Designer Simon Legald entworfen hat. Auch hier wird das Glatte und Perfekte zugunsten von haptisch strukturierten, vielfarbigen Oberflächen aufgegeben. Das Ziel: Weg vom starren Minimalismus, hin zu einer lebendigen, sprich imperfekten Mischung von Farben, Formen und Proportionen.
Lebendige Imperfektion
Souverän aus dem Lot geraten ist Fabio Novembres Sofa Adaption für Cappellini, das mit der einen Seite beinahe auf dem Boden aufliegt. Die anderen Seite wird dagegen von einem hohen Metallfuß austariert. Der Clou: Die Sitzfläche gleicht die Schräge des Möbels wieder aus – sodass Fehler und Lösung desselben Ursprungs sind. Auch das deutsche Label e15 – bisher ganz klar auf der puristischen Seite beheimatet – zeigt Mut zur Dekoration: Das von Philipp Mainzer und Farah Ebrahimi entworfene Sofa Kerman wird mit dem Stoffbezug Alice präsentiert, der eigens von einer belgischen Firma gewebt wurde und mit Dschungelpflanzen, Hirschen und Rehen überzogen ist. Nur wenige Messestände weiter sorgt Diesel mit dem Sofa Gimme Shelter für Aufsehen, das mit einem wilden Jacquard-Muster überzogen ist und so Palmen, Säulen und Leoparden zu einer düster-romantischen Szenerie verbindet. Ergo: Es darf wieder geträumt werden, ohne gleich in eine Ecke der Absonderlichkeiten gestellt zu werden.
Umgekehrte Wirkung
Was bleibt von dieser Messe? Zum einen die Erkenntnis, dass das Wohnen mehr denn je ein Patchwork aus unterschiedlichen Stilen, Stimmungen und Provenienzen ist. Attribute wie „alt“, „neu“, „reeditiert“, „adaptiert“ und „interpretiert“ werden nicht nur wild miteinander vermischt. Sie spielen im Grunde gar keine Rolle mehr. Alles ist alt. Alles ist neu. Alles ist adaptiert und interpretiert. Die Designer geben ihre Signatur damit an die Gemeinschaft ab. Klingt großzügig. Doch Signatur bedeutet auch Profil und Verbindlichkeit. Genau davon ist in Mailand wenig zu sehen. Das Generische wirkt an dieser Stelle in die entgegengesetzte Richtung: Es macht keinen Appetit auf die neuen Produkte. Es ist ein Plädoyer für den Antikmarkt.
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