Tradition im Bruch
Marmor auf der Kykladeninsel Tinos
Das griechische Wort für Marmor kommt von einem Verb, das sich mit „glänzt im Sonnenlicht“ übersetzen lässt. Wer Tinos besucht, versteht die Poesie. Die raue Insel besitzt die schönsten Marmorsteinbrüche, aber auch die leidenschaftlichsten Bildhauer. Generationen haben hier ihr Leben dem Handwerk gewidmet und ihre Spuren hinterlassen. Ein Besuch am vielleicht wichtigsten Ort für Marmor, den kaum jemand kennt.
Irgendwo zwischen den kargen Hügeln der kykladischen Insel Tinos liegt das Dorf Panormos. Vom Hafen, an dem die großen Fährboote anlegen und ein paar Güterlieferungen und Besucher ausspucken, ist es eine gute Stunde Autofahrt. Es geht schnell hinauf in die Berge, wo der Wind schärfer pfeift und die Grenze zwischen Horizont und Meer sich in einem satten Blau verliert. Das Dorf hat sich gut versteckt, es hält Abstand zur rauen Küste und hat seine Häuschen wie eine ausgeleerte Kiste weißer Bauklötze in einer grünen Senke platziert. Der Sound von Panormos ist ein stetes Klopfen. Es dringt aus Höfen und Häusern und trägt sich durch die engen Gassen. Wer ihm folgt, wird irgendwann sein Epizentrum finden. Eine steile Straße führt vom Marktplatz aus den Berg hinauf, an ihrem Ende steht ein altes Werkstattgebäude. Vor seinen halb offenen Türen lehnen Marmorplatten, daneben türmen sich halbfertige Skulpturen zu einem weißen Totem. Hinter den Türen arbeiten die Studierenden der School of Fine Arts Panormos, der einzigen Kunsthochschule Griechenlands, die ausschließlich auf Marmor spezialisiert ist. Fast alle tragen Kopfhörer, um das Hämmern und Meißeln mit Musik in einen harmonischen Rhythmus zu bringen.
Junges altes Dorf
Drei Jahre dauert hier die Ausbildung zum Bildhauer. Wer sie absolviert, bekommt die Chance, das Studium an der School of Fine Arts in Athen fortzusetzen. 40 Studierende nimmt die Schule in Panormos auf und verändert damit das Gesicht des gerade einmal 370 Einwohner zählenden Ortes. Während entlegene Inseldörfer sonst vor allem von der älteren Bevölkerung und ein paar Ferienhausbesitzern am Leben gehalten werden, sitzen auf dem Marktplatz in Panormos junge Menschen in staubigen Pullovern und trinken Flat White. Sie kommen aus der ganzen Welt – und wollen auch in sie zurück. Absolvent*innen der Marmorschule arbeiten an der Akropolis ebenso wie an steinernen Monumenten außerhalb Griechenlands. Sie werden Künstler*innen oder Kunsthandwerker*innen, lassen sich für Projekte anstellen oder reisen freischaffend als Spezialist*innen zu Ausgrabungsstätten. Nur in Panormos bleiben die wenigsten. Gerade einmal zehn Bildhauer*innen leben hier und verkaufen kleinere Arbeiten an Tourist*innen. Ab und zu kommen Aufträge aus dem Ausland, aus Frankreich, China oder den USA. Die griechische Finanzkrise hat auch bei den Bildhauer*innen ihre Spuren hinterlassen – das Dekorative und Ornamentale hat in Zeiten des Mangels keine Priorität.
Handwerk als Wissensexport
Vor ein paar Jahrzehnten war Marmor für Tinos noch von zentraler Bedeutung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten 500 auf Marmor spezialisierte Kunsthandwerker*innen in Panormos, 100 Einwohner*innen des Dorfes arbeiteten in den Steinbrüchen der Insel. Tinos war einer der wichtigsten Umschlagplätze und gleichzeitig ein Wissenszentrum für Marmor im modernen Griechenland. In den Steinbrüchen im Norden der Insel, dem Exo Meri genannten Gebiet, wurde weißer, grauer und grüner Marmor abgebaut. Von hier gingen sowohl der Werkstoff als auch die Handwerker an weit über den Globus verteilte Orte. Nach Kleinasien, Istanbul, Rumänien, aber auch in den Süden Russlands oder Ägypten. Ihre Traditionen und Hinterlassenschaften, ihr Wissen und ihr Erbe sind heute noch in Panormos verwurzelt, sind die Grundlage der kulturellen Identität. 2015 hat die UNESCO die Kunst der Marmorsteinbildhauer auf der griechischen Insel in die „Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit“ aufgenommen. Und stellt damit die Bedeutung des Wissens heraus, das auf Tinos von Generation zu Generation weitergegeben wurde. „Die Meister haben eine tiefgehende Erfahrung in Bezug auf Zusammensetzung und Struktur des marmorhaltigen Gesteins, sie kennen die Eigenschaften jeder einzelnen Marmorsorte und verstehen sich auf die Bearbeitung der Adern“, heißt es in der Begründung des Komitees.
Von Tinos in die Welt
Die Sorge, dass das traditionelle Wissen der Insel in Zukunft verloren gehen könnte, ist nicht unbegründet. Heute sind gerade noch zwei Steinbrüche aktiv. Sie liegen im nahezu unerschlossenen Norden der Insel. Von Panormos aus wird die gepflasterte Straße zur Schotterpiste, die für jeden Kleinwagen eine Herausforderung darstellt. Die großen Maschinen, die sich mit tiefem Bass langsam in den Stein rattern und die massiven Bandsägen, die langsam aber unbeirrbar die großen Klötze in Scheibchen sägen, sind in ihren Dimensionen auf ihren Arbeitsort ausgelegt. Lkws transportieren den Stein in Blöcken ab. Im Hafen von Tinos trifft man sie dann wieder, als gigantische, tonnenschwere Quader, die auf dem Rücken der Transportfahrzeuge die Fahrgestelle Richtung Asphalt drücken und in den Bäuchen der Fähren verschwinden. Und so, wie der Stein von der Insel verschwindet, tun es auch die Marmorbildhauer*innen. Die Studierenden zieht es zurück aufs Festland, die ältere Generation, die auf Tinos geboren wurde und ihr Leben und Schaffen dem lokalen Marmor verschrieben hat, stirbt langsam aus.
Generationenwechsel und Gender-Shift
Es ist aber nicht das Ende der Geschichte des Marmors auf Tinos, sondern ein neues Kapitel, dessen Verlauf noch ungewiss ist. Es spricht viel dafür, dass die Marmorbildhauerei hier ihren Weg finden wird. Mit dem global wieder erstarkten Interesse an Handwerkskünsten steigt auch die Nachfrage nach individuell gefertigten Marmorobjekten – und die Student*innen bringen einen zeitgenössischen Zugang zum Design mit. Die Bewerberzahlen liegen konstant doppelt so hoch wie die Anzahl der verfügbaren Studienplätze. Und beinahe ein Viertel der Lehrlinge ist neuerdings weiblich. Das ist ein bedeutender Umbruch in der Tradition des Marmorhandwerks – denn das war bis vor kurzem noch eine reine Männerdomäne. Und auch das Dorf kommuniziert seine Tradition und Identität mittlerweile über einen didaktischen Ort. Seit fünfzehn Jahren gibt es direkt neben der Schule das Museum of Marble Crafts – und der Weg hierher führt im direkten Sinn über einen von Generationen gepflasterten Weg. Denn weil bei den Bewohner*innen nahezu jeder Stein erst als Übungsobjekt unter den Meißel kommt, hat man die alten Studienarbeiten zweitverwertet und sie als Bodensteine verlegt – und damit die wohl künstlerisch wertvollsten Gässchen gebaut, die je ein 300-Seelen-Dorf gesehen hat.
FOTOGRAFIE Tanja Pabelick / PIOP, N. Daniilidis
Tanja Pabelick / PIOP, N. Daniilidis