Stories

Wolkenkratzer am Handgelenk

Wie der Turmbau zu Babel auf einem Handtuch: die Grand Complication von A. Lange & Söhne.

von Norman Kietzmann, 27.03.2014

Auf kleinstem Raum wahre Wunder zu vollbringen, gehört bei den Uhrmachern von A. Lange & Söhne zum normales Tagesgeschäft. Doch in diesem Fall mussten sie sich selbst übertreffen. Sie konstruierten die komplizierteste und teuerste Uhr, die bislang in Deutschland gebaut wurde. 1,92 Millionen Euro kostet die auf sechs Exemplare limitierte Grand Complication, deren Uhrwerk von 876 handgefertigten Einzelteilen in Bewegung gehalten wird.

Uhrwerke sind wie Innenstädte. In ihnen gibt es einfach zu wenig Platz. Das Vorhaben, das die Manufaktur A. Lange & Söhne aus Glashütte realisiert hat, klingt wie der Turmbau zu Babel auf der Größe eines Handtuchs. In eine Uhr mit einem Durchmesser von 50 Millimetern wurde all das hineingequetscht, was die hohe Kunst der Uhrmacherei zu bieten hat – und bisher noch nie in eine einzige Uhr hineingepasst hat. 

Geballte Funktion
Während andere Uhrenhersteller ihre Spitzenmodelle mit Diamanten in die Millionenliga hieven, verdankt die Grand Complication ihren Preis jener überbordenden Fülle anspruchsvoller Funktionen: Ein Schlagwerk mit großem und kleinem Geläut, Minutenrepetition, Rattrapante-Chronograph mit Minutenzähler und blitzender Sekunde sowie ein ewiger Kalender mit Mondphasenanzeige. Sieben Jahre Entwicklungsarbeit gingen der Uhr voraus, die auch in der Konstruktion einiges an Geduld abverlangt. 

Zwölf Monate verschlingt die Montage der 876 Einzelteile umfassenden Uhr. In diesem Zeitraum wird das Schlagwerk Tag und Nacht kontrolliert. Um herauszufinden, ob jede Viertelsekunde exakt wiedergegeben wird, werden die Schläge im Laufe von 24 Stunden aufgenommen und anschließend ausgewertet. Stellen die Uhrmacher eine geringe Unregelmäßigkeit fest, wird das gesamte Uhrwerk demontiert und der Aufbau beginnt von vorn. 

Klangliche Perfektion 
Das Schlagwerk der Grand Complication gibt als Großes Geläut (grande sonnerie) und Kleines Geläut (petite sonnerie) zu jeder vollen Stunde und Viertelstunde die Zeit an. Die Uhrmacher müssen an dieser Stelle nicht nur höchstes Fingerspitzengefühl beweisen, sondern ebenso einen guten Hörsinn. Nur wenn alle beweglichen Teile exakt aufeinander abstimmt sind, werden die beiden von Hand gestimmten Tonfedern präzise angeschlagen und erzeugen einen reinen, unverfälschten Klang. 

Ein regelrechtes Zeit-Konzert bewirkt das Aktivieren der Minutenrepetition durch einen seitlichen Schieber. Werden die Stunden durch die tiefer gestimmte Tonfeder angeschlagen, markiert die höher gestimmte Tonfeder durch einen Doppelschlag die Viertelstunden und durch einen Einzelschlag die Minuten. Um 10:22 Uhr erklingen folglich zehn tiefe Töne sowie ein Doppelschlag und sieben Einzelschläge auf der hohen Tonleiter.


Blitzende Sekunden
Seinen Antrieb erhält das Schlagwerk durch eines von drei Federhäusern, die über eine Krone aufgezogen werden. Auch hier bleibt keine Bewegung ungenutzt: Wird die Krone gegen den Uhrzeigersinn gedreht, spannt sich das Federhaus des Schlagwerkes. Wird die Krone in die entgegengesetzte Richtung gedreht, werden die Federhäuser des Laufwerks und der Blitzsekunde aufgezogen. Vor allem die Blitzsekunde gilt als eine besonders seltene Zusatzfunktion des Chronographen und vermag die Uhrzeit auf die Fünftelsekunde genau anzuzeigen. Auf dem unteren Zifferblatt vollzieht der Zeiger in hektischem Gemüt eine Drehung in fünf Schritten pro Sekunde – so schnell, dass ein genauer Wert mit bloßen Auge kaum zu erkennen ist. 

Wie ein Gegenspieler wirkt der ewige Kalender, der sowohl die unterschiedlichen Monatslängen als auch den 29. Februar sämtlicher Schaltjahre berücksichtigt. Punkt Mitternacht schaltet der Mechanismus die Anzeigen von Wochentag (auf 9 Uhr in Worten und auf 3 Uhr in Ziffern) und Monat (auf 12 Uhr) weiter. In der oberen Hälfte der Blitzsekunde (auf 6 Uhr) markiert eine Scheibe aus massivem Gold die Umlaufzeit des Mondes. Der Charme dieser Anzeige liegt genau im Fehlen einer präzisen Skala. Wenn der goldene Mond vor einem nachtblauen Emaille-Hintergrund seine Runden dreht, wird die empirische Wahrnehmung des Menschen plötzlich mit eingebunden. 

Vollendete Rotationen
Natürlich stellt sich bei alldem die Frage, was das eigentlich soll. Niemand braucht eine solche Uhr im Alltag. Gewiss. Doch darum geht es hierbei nicht. Die Grand Complication ist eine Probe aufs Exempel. Ein geglückter Weltrekord im Hürdenlauf, der nicht im weiten Rund eines Stadions, sondern inmitten einer engen, massivgoldenen Kapsel am Handgelenk ausgetragen wurde. Jeder Kubik-Makrometer im Inneren der Uhr ist mit winzigen Rädern gefüllt, die ihre Pirouetten in Vollendung ausführen. Alles läuft und läuft und läuft – bis einer das Aufziehen einmal vergisst. Das eigentliche Mysterium der Zeit offenbart sich just in diesem Moment. Denn ist Genauigkeit nicht auch eine menschliche Schwäche?

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