Zweite Ernte: Biomaterialien auf dem LDF
Leder aus Palmen, kunterbuntes Mais-Furnier und Plastik aus Pommes.

Innovation beginnt nicht zwingend mit dem Stift oder einem Modell – auch das Material kann zum eigentlichen Impuls einer revolutionären Produktidee werden. Die London Design Fair widmet deshalb frisch entwickelten Werkstoffen eine eigene Ausstellung und stellt das dritte Jahr in Folge ihr Material des Jahres vor. Nach Jesmonite und nachhaltig eingesetztem Kunststoff stehen in diesem Jahr ungewöhnliche Biomaterialien im Fokus.
Designer, Architekten, Ingenieure und Künstler müssen sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass jedes von ihnen gestaltete Produkt Auswirkungen auf die Welt und Umwelt hat. Was die Ausstellung Second Yield in London zeigt: Der Umgang mit unserem Planeten wird sich vielleicht vor allem in unseren Laboren verändern. Denn dort entstehen seit einigen Jahren Werkstoffe, die ein nachhaltiges Leben schnell sehr viel einfacher machen. Spätestens dann, wenn die Menschen nahezu ohne negative Auswirkungen auf die individuellen Ansprüche und den gewohnten Luxus verantwortungsvoll handeln können, wird sich der Umgang mit unseren Ressourcen verbessern. Aber: Viele Neuentwicklungen im Materialsektor bleiben neben den etablierten und gewohnten Rohstoffen wie Plastik, Holz und Metall unentdeckt. Hier will die London Design Fair intervenieren, indem sie Designer inspiriert, aber auch den Konsumenten als Einflussnehmer auf die Industrie für neue Materialien interessiert.
Als Biomaterialien oder biobasierte Materialien werden häufig Produkte bezeichnet, die in der Agrarindustrie abfallen. Viele dieser Ressourcen wurden bisher ungenutzt weggeworfen, verfüttert oder einfach verwertet – beispielsweise als Brennmaterial. Für die Materialforscher ist die Identifikation von Nebenprodukten mit Potentialen der erste Schritt, von hier an beginnt die eigentliche Arbeit. Wie bei jedem anderen landwirtschaftlichen Erzeugnis muss der optimale Ernte-Zeitpunkt bestimmt und aus den Laborversuchen heraus eine Massenproduktion entwickelt und etabliert werden. Zum Schluss gilt es, den passenden Einsatzort und eine maßgeschneiderte Designlösung zu finden. Diesen komplexen Prozess zeigt die London Design Fair an vier aktuellen Beispielen internationaler Designer und Materialforscher.
Mexiko: Fernando Laposse
Ursprünglicher Mais ist weit entfernt von den genormten gelben Körnern aus unseren Konservendosen. Er variiert in Farbe und Größe und reicht von einem tiefen Purpur bis zu zartgelben Nuancen. In der mexikanischen Küche spielt er bisher noch eine Rolle, droht aber durch die Globalisierung und die Ansprüche ausländischer Käufer konsequent verdrängt zu werden: Der Anbau ist einfach nicht rentabel. Bewahrt wird die Ursorte und ihr traditioneller Anbau von den indigenen Bevölkerungsgruppen – und damit liegt auch bei ihnen die Hoffnung, den ursprünglichen Mais zu retten. Seit 2016 arbeitet der Produkt- und Materialdesigner Fernando Laposse mit Familien in der Gemeinde Tonahuixtla zusammen, die in ihrem Dorf unter mangelnden Beschäftigungsmöglichkeiten und Landflucht der Bevölkerung leiden. Das Projekt von Laposse kehrt mit Unterstützung der weltweit größten Maissaatgutbank zum Anbau einheimischen Saatguts zurück und führt parallel eine innovative Einsatzmöglichkeit für die Hülsen ein. Sonst Abfall, verarbeitet jetzt eine Gruppe von Frauen die Hüllblätter in ein Furniermaterial namens Totomoxtle, das auch die wundervolle Farbwelt konserviert und in poetische Oberflächen transformiert.
England: Chip[s] Board
England ist das Land von Fish'n'Chips, das Unternehmen McCain nicht nur national, sondern weltweit der größte Hersteller von Kartoffel-Tiefkühlprodukten. Die Gründer von Chip[s] Board, Rowan Minkley und Rob Nicoll, haben sich mit dem Familienunternehmen zusammengetan um eine sinnvolle Verwertung für die Beiprodukte und Abfälle der Kartoffelproduktion zu finden. Parblex Plastics ist ein Halbzeug, das sich wie Kunststoff verwenden und verarbeiten lässt: Es kann spritzgegossen werden, im 3D-Druck eingesetzt oder gefräst. Der Biokunststoff ist transluzent und kann zusätzlich faserverstärkt werden, biologische Zuschläge wie Kaffee oder Pinienspäne nehmen verändern die ästhetischen Eigenschaften, ohne die Nachhaltigkeit zu beeinträchtigen. Keines der entwickelten Produkte enthält giftige Chemikalien, alle sind langlebig recycelbar und biologisch abbaubar.
Niederlande/Indien: Studio Veenhoven
Die Betelnuss ist der Kaffee Asiens – besonders in Indien ist ihr Kauen, das gegen Ermüdung wirkt, selbstverständlicher Teil des Alltags. Die kleine Nuss stammt von der Areca-Palme, die jedes Jahr im Oktober ihre großen Blätter abwirft – 80 Millionen Quadratmeter Blattfläche landen ungenutzt auf dem Boden. Das in den Niederlanden ansässige Studio Tjeerd Veenhoven entwickelte eine Verwendungsmethode für die getrockneten Palmblätter. Mithilfe natürlicher Zutaten und einfacher Verfahren macht Tjeerd das trockene und harte Palmblatt dauerhaft weich und produziert daraus ein Material das in seinen Qualitäten an Leder erinnert. Seit 2010 gibt es PalmLeather und die aus ihm hergestellten Produkte, wie den in London gezeigten Teppich. Er besteht aus in Streifen geschnittenen Blättern, die in Lagen zur Fläche arrangiert werden; wobei die Unregelmäßigkeiten und zufällige Verwindungen erst den ästhetischen Reiz des fertigen Produktes ausmachen.
Italien: High Society
Ins Leben gerufen wurde High Society von Johannes Kiniger und Giulia Farencena Casaro. Sie nutzen Pflanzenabfälle aus verschiedenen Produktionsverfahren, um daraus ein Rohmaterial herzustellen, das in Formpressverfahren Verwendung finden kann. Eine Komponente sind sogenannte Trester, die breiigen Rückstände aus der Weinherstellung, aber auch Blätter und Stängel aus der Tabakproduktion sowie Hanfreste können verarbeitet werden. Das Unternehmen selbst sitzt in den Dolomiten, die Beiprodukte aus der Landwirtschaft sammelt das Gründerduo bei Weinproduzenten in Südtirol oder Tabakbauern in Venezien. Je nach Grundstoff fällt die Optik des Materials unterschiedlich aus und zeigt sich weinrot, hanfgrün oder tabakgelb. Den organischen Grundstoffen wird ein Bindemittel auf biologischer Basis zugesetzt, daraus fertigen High Society ihre drei Leuchtenschirme, die als glänzendes Finish eine Wachsbeschichtung erhalten.
Die Ausstellung „Second Yield“ ist vom 19. bis zum 22. September 2019 im Rahmen der London Design Fair in der Old Truman Brewery zu sehen.
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