Menschen

Ausweitung der Perspektiven

Andrés Reisinger über digitale Möbel und Architektur im Metaverse

Andrés Reisinger gilt derzeit als einer der gefragtesten digitalen Künstler des 21. Jahrhunderts. Seine unverwechselbare, traumähnliche Bildästhetik, die auch ganze Interiors und Architekturen umfasst, zieht nicht nur das Interesse von Sammler*innen und Kunstgalerien auf sich, sondern reizt auch Möbelmarken. Ein Gespräch mit dem Ausnahmekünstler.

von Kathrin Spohr, 17.10.2022

Bekannt wurde Andrés Reisinger mit den Renderings surrealer Möbelstücke auf Instagram. Im November 2021 erzielte eines seiner jüngsten Werke, der Kurzfilm Arcadia, beim Christie’s NYC Evening Sale 525.000 US-Dollar. Arcadia ist ein interdisziplinäres NFT, das Reisinger zusammen mit dem Musiker und Grammy-Award-Gewinner RAC sowie der Bestseller-Dichterin Arch Hades kreiert hat. Ursprünglich aus Argentinien stammend, lebt und arbeitet Reisinger heute in Barcelona. Mit baunetz id sprach er über digitale Möbel, die in die Realität geholt werden, die Notwendigkeit von Architekturbüros im Metaverse und eine virtuelle Hommage an Dieter Rams.

In den Medien kursieren unterschiedlichste Informationen über Ihren Werdegang: Haben Sie Architektur, Design oder Grafikdesign studiert? Oder alles?
Ich habe an der Universität von Buenos Aires angefangen, Design zu studieren, das Studium jedoch abgebrochen. Ich bin zwischen Buenos Aires und Madrid hin und her gependelt. Da meine Agenten und Kunden aber hauptsächlich in Europa waren, war der Umzug nach Europa eine lineare und rationale Entscheidung. Ich habe damals ein Werbestudio gegründet, mich dann jedoch auf meine Kunstprojekte konzentriert.

Das Projekt Hortensia Chair, das ursprünglich als 3-D-Rendering entstand, ist inzwischen Realität geworden. Die niederländische Möbelmarke Moooi hat den Stuhl 2021 auf den Markt gebracht. Ist es eines der Ziele Ihrer virtuellen Werke, sie auch im realen Raum entstehen zu lassen?
Ich schaffe nie ein digitales Kunstwerk mit der Absicht, es in die Realität umzusetzen! Denn dieses Denken würde meinen kreativen Ausdruck stark einschränken. Ich bin dafür, der Fantasie freien Lauf zu lassen. Egal wohin sie führt, ob zum Möglichen oder Unmöglichen.

Arbeiten Sie für weitere Möbelmarken?
Abgesehen von einer langen, erfolgreichen und freudigen Zusammenarbeit mit Moooi sind im Moment keine weiteren Kollaborationen in Arbeit. Aber ich habe in der Vergangenheit mit verschiedenen Möbelmarken kooperiert und werde dies auch in Zukunft tun.

Inwieweit beeinflussen digitale Entwürfe von Räumen und Möbeln die Trends der „realen“ Innenarchitektur?
Die digitalen Entwürfe werden gleichermaßen von der realen Welt beeinflusst, weshalb ich bei der Gestaltung digitaler Werke nicht an physische Ergebnisse denke: Das Digitale hat die unvergleichliche Kraft, uns zu unerwarteten Ergebnissen zu treiben. Oftmals schränken wir die Möglichkeiten und Ausdrucksformen unserer Kreationen ein, noch bevor wir überhaupt wissen, ob etwas physisch zum Leben erweckt werden kann oder nicht. Wir sind durch unsere eigenen, früheren Erfahrungen begrenzt. Das Digitale bietet uns eine Alternative, eine Ausweitung der Perspektiven.

Ist die Manifestation von Projekten in der realen Welt eine Enttäuschung?
Nein, es ist nur ein anderer Ausdruck.

The Shipping ist eine Kollektion, die zehn digitale Möbelstücke umfasst. Fünf davon haben ein physisches Gegenstück – alle zehn können digital in jede beliebige Open World eingesetzt werden. Mit diesem und vielen anderen Projekten entführen Sie Betrachter*innen in eine neue, hybride Realität und sind damit sehr erfolgreich. Warum sind die Menschen dafür so empfänglich?
Weil ich sie langsam auf die andersartige Reise mitnehme. Ich gebe ihnen das Gefühl, sich gleichzeitig wohlzufühlen und verunsichert zu sein. Die Menschen wollen neugierig bleiben und ebenso in der Lage sein, Dinge irgendwie zu verstehen und zu erkennen, ohne sich völlig ahnungslos oder verloren zu fühlen.

Das in diesem Jahr gestartete digitale Architekturprojekt Winter House ist das Vorprojekt eines Metaverse-Architekturbüros, das Sie mit anderen Partnern gründen werden. Warum brauchen wir eigentlich ein Metaverse-Architekturbüro?
Bei diesem Projekt geht es um die digitale Migration von Immobilien. Wir brauchen es, weil unsere Erfahrungen sich nicht auf den physischen Bereich beschränken. Manch einer mag es kaum glauben, aber viele leben bereits in der digitalen Sphäre und erledigen dort ihre Aufgaben. Wie in jeder anderen Disziplin gibt es auch dort Besonderheiten und Parameter, die eine gut gestaltete „Metaverse-Architektur-Komposition“ definieren – und das wiederum können nur diejenigen vollständig ausdrücken, die wissen, wie man in dieser Sphäre praktiziert.

Das Winter House wird von einer großen Betonstruktur getragen, die aus dem Boden herausragt – das Design von Dieter Rams aus den frühen Sechzigerjahren war Vorbild dafür. Was macht das Werk von Rams so inspirierend für ein Metaverse-Haus?
Dieter Rams ist nicht nur für metaverses Wohnen inspirierend. Ich bin ein großer Bewunderer seiner Arbeit, seiner Art, über Design zu denken, Design zu verwenden und zu praktizieren. Ich wollte ihm eine Hommage erweisen.

Wie schaffen Sie es, die onirische, traumgleiche Ästhetik mit dem funktionalen Design der Sech­zi­ger­jah­re zu verbinden?
Ich arbeite immer mit dem Kontext. Das Gesamtbild und die Atmosphäre eines Raums ziehen die Menschen doch an und spiegeln gleichzeitig Persönlichkeit wider. Wenn man ungewöhnliche Dinge miteinander vermischt, die scheinbar aus ganz verschiedenen Welten stammen, entstehen oft bezaubernde Ergebnisse!

Der Hortensia Chair ist rosa. Auch die Möbel in dem digitalen Architekturprojekt Winter House sind rosa. Was ist so faszinierend an dieser Farbe?
Rosa ist die Farbe unserer inneren Organe. In meinem Leben – und folglich in meiner Arbeit – finde ich immer eine tiefe Verbundenheit zu Mensch und Natur. Besonders in der digitalen Welt ist eine Verbindung zu unserer Menschlichkeit entscheidend, um ein Werk verstehen, sich ihm nahe fühlen und es schätzen zu können.

Im Rahmen des Winter House sprechen Sie von natürlichen Materialien wie Beton, Glas und Stahl. Ist es sinnvoll, in einem digitalen Metaversum von natürlichen Materialien zu sprechen? Oder müssen wir andere Formulierungen finden?
Es geht nicht darum, ein konkretes Material widerzuspiegeln, sondern das Gefühl dieser Materialien zu vermitteln, um das Gesamtambiente vertrauter zu machen. Einige Dinge im Metaversum sind völlig neu, während andere von der physischen Welt inspiriert oder von Dingen übernommen sind, die wir kennen. Wie immer geht es darum, einem Prozess zu folgen. Die Einführung einer stärker präsenten digitalen Sphäre muss verdaut und verarbeitet werden. Und es gibt bestimmte Codes im Leben, ohne die wir – vorerst – nicht auskommen.

Ihre Werke werden oft mit traumhaften Szenerien verglichen. Welche Vision unserer Gesellschaft steckt dahinter?
Die Idee von einer Gesellschaft, die gleichzeitig in einer digitalen und einer physischen Welt leben kann. Mehr als die Vision einer Gesellschaft ist es jedoch die Vision einer menschlichen Erfahrung.

In vielen Ihrer Werke gibt die Natur den Rhythmus des Kunstwerks vor. Warum sollen Ihre Werke Ruhe und Stille ausdrücken?
Es liegt an meiner engen Beziehung zur natürlichen Welt und meinem Bedürfnis, darin einzutauchen. Abgesehen von dem grundlegenden menschlichen Instinkt und der Verbundenheit mit dieser Welt habe ich mich schon immer von den unglaublichen Rhythmen, der Logik und den Prozessen der Natur angezogen gefühlt und sie als meine Inspirationsquelle genutzt.

Wie nachhaltig sind Ihre Projekte, die gigantische Datenmengen erfordern?
Die Datenmengen sind gar nicht so gigantisch. Ich wage zu behaupten, dass digitale Projekte sogar nachhaltiger sind als physische. Das ist leicht messbar – nur mit Daten aus physischen Transporten in der ganzen Welt.

In welche Richtung gehen Ihre weiteren Projekte?
In die Entdeckung der neuen und vielfältigen Möglichkeiten, die der digitale Bereich bietet. Wir haben noch nicht einmal den kleinsten Teil dessen gesehen, was das Digitale zu leisten vermag. Ich interessiere mich auch für rekombinante, kollaborative und sich ständig verändernde Kunst.

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Andrés Reisinger

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