Menschen

Design als politisches Werkzeug

„Wahrscheinlich haben wir die Gegend sogar mit aufgewertet.“

von Uli Meyer, 12.07.2019

In São Paulo, der Megacity Südamerikas, leben rund 21 Millionen Menschen. Es ist auch die Heimat der brasilianischen Designer Humberto und Fernando Campana, die seit den Achtzigerjahren die etablierte Designwelt mit kontroversen Entwürfen aufzumischen wissen. Wir treffen uns mit Humberto Campana im Studio der beiden im Stadtteil Santa Cecilia. Mit am Tisch sitzt Waldick Jatobá, der das Instituto Campana leitet. Die vor zehn Jahren gegründete Stiftung soll das Erbe der Brüder bewahren, indem sie Design als Handlungswerkzeug für soziale Ausbildungsprogramme nutzt.

Santa Cecilia befindet sich im Zentrum von São Paulo. Nach Jahrzehnten des Verfalls erholt sich der Stadtteil langsam wieder und zeigt alle Vor- und Nachteile der Gentrifizierung. Das Studio der Campanas, in dem rund 20 Mitarbeiter beschäftigt sind, befindet sich in einer betriebsamen Straße mit kleinen Geschäften, Bars und Restaurants.
Durch eine hohe Wand von der Straße getrennt, betritt man einen überdachten Hof, der die Studioräume abschirmt. Gleichzeitig belichtet der Innenhof ein Souterraingeschoss, in dem Mitarbeiter in mehreren Werkstätten die berühmten Vermelha Chairs der Brüder fertigen. Das Büro von Humberto Campana liegt genau darüber.

Seit wann befindet sich das Studio hier in Santa Cecilia? Humberto Campana: Seit 1992. Als wir hierherzogen war die Gegend ziemlich heruntergekommen. Ich hatte hin und wieder Angst, da es früher eine No-Go-Area war. Das Gebäude, in dem sich das Studio befindet, ist eine ehemalige Autowerkstatt. Ein Freund kaufte es und vermietet es uns bis heute. Fernando wohnte sogar zunächst hier. Für ihn war es Studio und Wohnung in einem. Wir haben alles um- und den Innenhof eingebaut. Wahrscheinlich haben wir die Gegend sogar mit aufgewertet.

Es scheint, als ob sich das Zentrum von São Paulo gerade stark verändert. Wie macht sich der Wandel für Sie bemerkbar? HC: São Paulo ist für uns eine Hassliebe. Das Gefühl ist sehr bipolar. Einerseits ist es eine faszinierende und sehr lebendige Stadt. Andererseits ist es ein Ort voller Gewalt, Kriminalität und Armut. Wir leben hier seit unserem Studium und São Paulo hat uns viel gegeben – sehr viel Inspiration zum Beispiel. Daher haben wir auch 2009 entschieden, der Stadt etwas zurück zu geben und gründeten das Instituto Campana.

Was ist die Idee dahinter? Waldick Jatobá: Wir verfolgen mit der Campana Foundation drei Ziele. Zunächst wollen wir das Wissen von Fernando und Humberto mit anderen zu teilen, um zu helfen. Das geschieht mittels Workshops, die die beiden geben. In diesen wird ihr Knowhow vermittelt, Gegenstände neu zu denken. Daraus entstehen neue Produkte. Um die Workshops zu organisieren, arbeiten wir mit circa sechs NGOs zusammen, die zum Beispiel Rehabilitationszentren für Obdachlose betreuen. Ganz konkret kooperieren wir zurzeit mit einer Einrichtung für Drogensüchtige, die zwei Stunden von São Paulo entfernt liegt. Neben den Kursen und Gesprächsgruppen, die die Bewohner dort besuchen, bieten wir ihnen einen Designkurs an.

Woran wird dort gearbeitet? WJ: Momentan arbeiten die Teilnehmer an Schalen und Vasen aus Tonziegeln. Die Männer produzieren die Objekte, wir kaufen sie ihnen ab und verkaufen sie an ausgesuchte Designläden hier in São Paulo. Das heißt, das Geld, das auf diese Weise eingenommen wird, fließt direkt an das Zentrum zurück. Mit zehn solcher Einrichtungen arbeiten wir gegenwärtig zusammen.

Sie erwähnten drei Ziele. Was sind die anderen beiden? WJ: Das zweite Ziel ist, das „Erbe“ der Campanas zu bewahren. Wir haben ein Lagerhaus in Brotas, circa 200 Kilometer nördlich von São Paulo, der Heimatstadt der Brüder, gemietet. Dort werden alle Prototypen, alle Dokumente, Interviews und Artikel, die jemals angefertigt und über die Brüder veröffentlicht wurden, gelagert und archiviert. Die Stiftung ist dort verantwortlich für das Magazin und bearbeitet alle Anfragen für Ausstellungen.
Das dritte Ziel ist, die handwerklichen Traditionen Brasiliens zu dokumentieren. Sie aufzuspüren, zu bewahren und, wenn möglich, da wieder zu beleben, wo sie drohen zu verschwinden. Das geschieht anhand von Workshops mit Handwerkern und Arbeitern, mit Forschung und vor allem dem direkten Kontakt zu den Menschen vor Ort.

Wie funktioniert das genau? WJ: Das kommt immer auf das Projekt an. Kürzlich zum Beispiel wurde Humberto eingeladen, eine Ausstellung im Museu de Arte Modern de Sāo Paulo zu kuratieren. Gleichzeitig bat man ihn auch, die zur Ausstellung passenden Produkte für den Museumsshop auszusuchen. Es ist eine Ausstellung über den Nordosten Brasiliens, eine an Kunsthandwerk sehr reiche Gegend. Das heißt, er wird Erzeugnisse von dort auswählen und gleichzeitig mit lokalen Communities an neuen Produkten arbeiten. Das werden Gegenstände sein, die die dortigen Communities immer wieder nachbauen und verkaufen können, um sich eine ökonomische Grundlage zum Überleben zu schaffen. „Neue Produkte schaffen“ – das liegt in der DNA der Brüder. Was mich ganz persönlich sehr freut, ist zu sehen, wie sich diese drei Ziele der Stiftung permanent überschneiden und gegenseitig ergänzen.

Herr Campana, es scheint als ob Ihre Designsprache früher vor allem darin bestand, Möbel und Dinge anders zu machen, eben neu zu denken. Seit einiger Zeit rückt dieser Einfluss des alten Handwerks stärker in den Vordergrund und lässt die bisherige Designsprache etwas in den Hintergrund treten. Stimmt diese Wahrnehmung? HC: Na ja, das entstand Schritt für Schritt und eher zufällig. Ich denke, unser erstes Projekt, bei dem der Aspekt, anderen mit unserem Design zu helfen, aufkam, war der Paraiba Chair. Das war 2001, als wir eine Fabrik in Paraiba (nordöstlicher Bundesstaat von Brasilien) entdeckten, die Puppen aus alten Kleidungsstücken produziert. Zu dieser Zeit suchten Fernando und ich nach neuen Möglichkeiten der Polsterung von Armsesseln. Wir nahmen einige Puppen mit, um sie als Polster für einen Stuhl zu verwenden. Der Stuhl wurde ein Erfolg, er wurde viel publiziert und ein Jahr später hörte ich von der Community, dass wir ihnen mit dem Entwurf sehr geholfen hatten: Der Stuhl verkaufte sich so gut, dass sie von dem Geld ein neues Fabrikgebäude bauen konnten. Dadurch haben wir gemerkt, dass wir mit unserer Arbeit das Leben anderer Menschen verändern und verbessern können. Design wird so zu einem politischen Werkzeug. Das Leben von Menschen zu verändern, ist immer politisch.

Zurück zu den Designkursen: Inwieweit können die Teilnehmer die Produkte selbst gestalten beziehungsweise weiterentwickeln? WJ: Die Produkte, die in den Einrichtungen hergestellt werden, werden mit einem Stempel der Stiftung ausgewiesen und sind so als Campana-Produkte zu erkennen. Für jedes Zentrum haben die Brüder drei bis vier Produkte entwickelt. Diese müssen die Teilnehmer genauso herstellen. Das heißt, die Stiftung genehmigt gewissenmaßen das fertige Produkt. Es bekommt den Stempel, eine Art Zertifizierung mit Label und eine Verpackung der Stiftung. Das Produkt wird mit dem Campana-Label also aufgewertet.

HC: Das Beispiel der Schalen aus Tonziegeln ist ganz interessant.  Als ich das erste Mal zu der Einrichtung gefahren bin, hatte ich noch keine Idee, was ich mit den Teilnehmern machen könnte. Auf dem Weg sah ich eine Ziegelfabrik. Ich hielt mit dem Auto an und fragte, ob ich ein paar der noch feuchten, nicht gebrannten Ziegel haben könnte und nahm sie mit zu dem Workshop. Ich fand die Metapher sehr schön: Häuser werden aus Ziegeln erbaut, wieso nicht auch Lebensläufe mit Ziegeln wiederaufbauen?

Eine letzte Frage: Anfang des Jahres ist der rechtsradikale Jair Bolsonaro als neuer Präsident Brasiliens vereidigt worden. Seitdem versucht er das Land mit hoch umstrittenen Bestimmungen und Gesetzen, wie beispielsweise Abholzung des Regenwalds oder Einschränkung von Minderheitenrechten, in seinem Sinne umzuformen. Wie empfinden Sie ihre Arbeit unter der momentanen Situation im Land? Hat sich etwas verändert? HC: Ich betrachte mich als Designer nicht als politisch. Ich mag es einfach, Dinge anzuschieben. Die Stiftung ist meine Art auf die Situation zu reagieren.

Das heißt, Sie denken, die Idee, die Stiftung zu gründen, hat damit zu tun, dass Sie Brasilianer sind, in São Paulo leben und tagtäglich mit dem Elend konfrontiert sind? HC: Ja, auf jeden Fall! Ich möchte zum Beispiel bald noch eine Schule für Handwerkskunst gründen, in der ich Kindern Handwerkstechniken beibringe. Schon jetzt kommen einmal im Monat Kinder aus einer Favela in unser Studio und ich versuche, ihnen Kreativität näher zu bringen und mit kleinen Projekten neue Horizonte zu eröffnen. Was dann daraus entsteht, liegt nicht mehr in meiner Macht.

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