Menschen

Exotik im Alltag

Nachruf auf den brasilianischen Designer Fernando Campana (1961-2022)

Fernando und Humberto Campana haben Sessel aus Plüschtieren gestaltet, Schränken Haare wachsen lassen und Sofas in Seeanemonen verwandelt. Handwerkliche Prozesse übersetzten die Brüder aus São Paulo in fantasievolle Möbel und Objekte. Am 16. November ist Fernando Campana, der Jüngere der beiden Designer, im Alter von 61 Jahren gestorben.

von Norman Kietzmann, 21.11.2022

Möbel sind verlässliche Naturen. Typologien wie Schrank, Tisch oder Stuhl lassen zwar durchaus Variationen zu. Doch im Grunde sind die Dinge stets als das zu erkennen, was sie sind. Fernando und Humberto Campana haben genau damit Schluss gemacht. Die Brüder aus São Paulo haben sich nonchalant über die gängigen Vorstellungen hinweggesetzt, wie etwas auszusehen hat. Produkte sind bei ihnen keine glatten, austauschbaren Dinge, sondern charaktervolle Wesen, die niemanden gleichgültig lassen. „Wir wollen mit unseren Entwürfen Geschichten erzählen, die von Fantasien und Erfahrungen aus unserer Kindheit getragen sind. Wir entwerfen Objekte, die Zuneigung geben und eine Beziehung zu den Menschen aufbauen“, sagt Humberto Campana.

Starkes Duo
Als wir ihn im Juni 2022 getroffen haben, hat er die Reise zur Mailänder Möbelmesse bereits alleine angetreten, ebenso einen vorherigen Besuch bei mehreren Herstellern. Nun ist sein acht Jahre jüngerer Bruder Fernando am 16. November überraschend gestorben – im Alter von 61 Jahren. Genaue Umstände wurden nicht kommuniziert, die Beisetzung erfolgte drei Tage später im Kreis der Familie. Die Designwelt hat einen ihrer kreativsten Impulsgeber verloren – und Humberto Campana seinen genialen Sparringspartner. „Wenn man zum selben Blut gehört, kann man nicht einfach sagen: ‚Ich will Dich nicht mehr sehen!‘ Einem normalen Partner gegenüber kann man das sagen und es auch so meinen. Doch ich kann mir nicht vorstellen, meinen Bruder nicht wiederzusehen. Wir müssen zusammenhalten“, sagte Fernando Campana in einem unserer früheren Interviews. Als Brüder zusammenzuarbeiten, war für sie stets ein klarer Vorteil: „Es ist gut für die Arbeit, weil wir sehr kritisch sind. Wir brauchen einander nicht zu schmeicheln oder ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Wir kommen sehr schnell auf den Punkt“, pflichtete ihm Humberto bei.

Überwindung der Moderne
Aufgewachsen sind die Brüder in einem Dorf auf dem Land, drei Autostunden von São Paulo entfernt. Später zogen sie in die Stadt. Humberto studierte Jura, Fernando Architektur. 1983 gründeten sie ihr gemeinsames Studio. Die brasilianische Militärdiktatur war zu diesem Zeitpunkt bereits angezählt. Zwei Jahre später folgte der Neubeginn als Demokratie. Der Moment des Aufbruchs übertrug sich auf die Arbeit der jungen Gestalter. Und das bedeutete durchaus einen Bruch mit den großen Meistern. „Architekten wie Oscar Niemeyer, Lina Bo Bardi oder Roberto Burle Marx waren Teil unserer Populärkultur in Brasilien. Doch wir wollten über den Modernismus hinausgehen und das Barocke aufgreifen, was unserer Seele als Nation sehr viel mehr entspricht. Brasilien ist eine Mischung aus indigenen, afrikanischen, europäischen und asiatischen Kulturen. Die Hitze, der Lärm und all die vielen Farben gehören mit dazu. Brasilien ist kein ruhiges Land. Diese Wurzeln wollen wir in Objekte übersetzen“, sagt Humberto Campana.

Form und Prozess
Und so betrieben die Brüder Upcycling, lange bevor dieser Begriff überhaupt verwendet wurde. Sie benutzten industrielle Abfälle wie Seile, Drähte, Holzstückchen, Stoff- oder Lederreste als Ausgangspunkt. „Wir zerschneiden, bemalen, reorganisieren und setzen diese Materialien neu zusammen. Irgendwann sieht man das ursprüngliche Material nicht mehr und erkennt in einem Objekt ein lebendes Tier, eine Pflanze oder eine andere Struktur, die sich unserer Kontrolle entzieht“, so Fernando Campana. Bei anderen Entwürfen verwendeten sie Ready-Mades und setzten Sessel aus unzähligen Plüschtieren zusammen. Der Prozess des Sammelns, Verdichtens und Verbindens zieht sich als roter Faden durch das Werk der Campana-Brüder, die den Computer dabei nicht als Werkzeug benutzt haben.

Korrekt gewickelt
Gestaltung wird nicht nur als Form, sondern als Prozess gedacht. Das gilt auch für die spätere Fertigung. Mitunter dauert es Monate, bis die Handwerker eine spezielle Flechttechnik oder andere knifflige Aufgabe gelernt haben, um einen der Campana-Entwürfe umzusetzen. Der Favela Chair (1991) von Edra wird aus Holzresten zusammengefügt – von einer deutschen Community, die im 19. Jahrhundert nach Brasilien ausgewandert ist. Fernando und Humberto Campana haben ihnen beigebracht, den rechten Winkel zu vergessen und so chaotisch wie möglich zu arbeiten. Der Sessel Vermelha (1998, ebenfalls für Edra) verfügt über ein tragendes Metallskelett, auf das 500 Meter Spezialseil nach einer ausgefeilten Technik von Hand gewickelt werden und so eine Sitzschale mit raffinierter, dreidimensionaler Oberflächenstruktur entstehen lassen.

Ökologisch und sozial
Für Paola Lenti haben die Brüder 2022 die Kollektion Metamorfosi entworfen, für die Reste aus der Herstellung von Stoffen und Schnüren verwendet werden. Das Sofa Alicia wartet mit einer Rückenlehne aus zylindrischen, beweglichen Elementen auf, die von den Tentakeln der im Mittelmeer beheimateten Beerenanemone inspiriert sind. Die Sitzbank Bruco erinnert an eine Raupe und verfügt über eine Polsterung aus recyceltem Polyethylen und recycelten Polyesterfasern. Die Fertigung erfolgt im Schneideratelier CouLture Migrante in Como, wo von sozialer Ausgrenzung bedrohte Frauen die Möglichkeit zur beruflichen Integration erhalten. Der Mensch ist keine austauschbare Schraube im Getriebe, sondern elementarer Teil des Ganzen. Fernando und Humberto Campana haben das Wissen der Hände in den Design- und Fertigungsprozess integriert – und ihre Produkte damit dem Austauschbaren und leicht Kopierbaren entzogen.

Aufrüttelnde Natur
Das Sofa Bomboca für Louis Vuitton ist einem traditionellen Konfekt nachempfunden, lässt aber ebenso Assoziationen an Dickhäuter oder Schlangen zu. Der Sessel Bulbo (ebenso aus der Kollektion Objets Nomades von Louis Vuitton) vermittelt das Gefühl, von einer tropischen Blume umarmt zu werden. „Wir lieben Biologie, obwohl wir überhaupt keine Biologen sind. Aber die Details von Pflanzen und Tieren sind enorm faszinierend. Wir kommen aus einem Land mit wunderschöner Natur, die leider Stück für Stück durch die Landwirtschaft zerstört wird. Für mich sind diese Arbeiten auch eine Art von Aufruf: Die Natur ist schön! Also sollten wir besser auf sie achtgeben“, sagt Humberto Campana. Den Weg, das mitunter etwas konventionell gewordene Möbeldesign mit unerwarteten Entwürfen aufzurütteln, wird er nun alleine fortsetzen.

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Links

Estudio Campana

estudiocampana.com.br

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