Architektur statt Antibiotika
Aino und Alvar Aaltos Tuberkulose-Sanatorium in Paimio
Als Aino und Alvar Aalto mit dem Bau des Tuberkulose-Sanatoriums in Paimio beauftragt wurden, gab es gegen die Infektionskrankheit keine wirksame Medizin. Was blieb, war die Schonung der Patient*innen, die durch gestalterische Mittel unterstützt werden sollte. Ein Stationsbesuch auf dem finnischen Zauberberg.
In der Literatur traf es zunächst die Liebenden und die Boheme, in der Realität später vor allem die Armen und das Proletariat. Von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts hatte eine Krankheit die Welt fest in ihrem Griff und ließ jedes Jahr allein in Deutschland Hunderttausende zugrunde gehen: die durch den Erreger Mycobacterium tuberculosis ausgelöste Tuberkulose, von den einen auch Schwindsucht oder Weißer Tod, von den anderen nach ihrem Entdecker Morbus Koch benannt. Das berühmteste Opfer, die Kameliendame Marguerite Gautier, aus dem gleichnamigen Roman von Alexandre Dumas, verhalf der Krankheit 1848 zu ihrer romantischen Komponente. Nur wenige Jahre später von Giuseppe Verdi musikalisch verarbeitet, eroberte die Schwindsucht von Venedig aus die Opernhäuser Europas: In La Traviata („Die vom Wege Abgekommene“) leidet eine Kurtisane an der bisher unheilbaren Krankheit – die Tuberkulose führt sie in den Tod.
So romantisch dieser hier wirken mag, abseits von Literatur und Oper wünschen sich die Menschen Gesundheit und Heilung – die nicht immer leicht zu erreichen war. Ohne adäquate Behandlung mit Antibiotika suchte man andere Wege, um der Krankheit Einhalt zu gebieten. Besondere Lösungen fand man in Finnland, vielleicht auch weil dort Antibiotika erst in den Fünfzigerjahren, also verhältnismäßig spät, erhältlich waren. Und so beschäftigten sich nicht nur Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen mit der Infektionskrankheit, sondern auch die finnischen Architekt*innen. Alvar Aalto – er war gerade 34 Jahre alt – erhielt 1929 gemeinsam mit seiner Frau Aino Aalto den Auftrag, ein Sanatorium mit 184 Betten zu planen: Das Paar hatte sich mit einem besonderen Entwurf (Drawn Window) und 286 Betten im Wettbewerb durchgesetzt. In ihrem geplanten Neubau mit den vier markanten Flügeln, die über einen Mittelteil verbunden sind, sollten sich die an Tuberkulose Erkrankten erholen und genesen. Von 1930 bis 1933 in den hochgewachsenen Kiefernwäldern bei Turku gebaut, war das Tuberkulose-Sanatorium in Paimio bis Anfang der Sechzigerjahre in Betrieb, 1971 begann man, das Sanatorium in ein Krankenhaus umzubauen. Seit 1987 wird der Bau von der Uniklinik Turku als Therapiezentrum für Kinder mit körperlichen oder geistigen Behinderungen genutzt.
Fenster versus Petrischale und andere Irrtümer in Paimio
Heute leitet eine fachkundige Dame durch die Flure des einstigen Sanatoriums und erzählt von einem fehlgeplanten Heizsystem, zu kurz geratenen Vordächern und dem unglücklichen Umstand, dass einige der eingebrachten Glasflächen kaum zu reinigen waren. Alvar Aalto hatte das Sanatorium und dessen Räume vor allem auf Sonnenlicht, Luft und Ruhe ausgerichtet. So mussten die damaligen Patient*innen, die zum Teil über Jahre dort blieben, jeweils täglich für mindestens zwei Stunden auf den Terrassen liegen, schweigen und atmen – und das auch im Winter bei Temperaturen von bis zu minus 19 Grad; Lesen war dabei verboten. Dafür gab es warme Fellschlafsäcke. Große Fenster, fröhliche wie zurückhaltende Farben (in Zusammenarbeit mit dem Künstler Eino Kauria) und eine speziell für den Komplex entwickelte Möblierung sollten den Heilungsprozess fördern. Das Fensterglas, so eine der Geschichten, die auf solchen Führungen immer gerne erzählt werden, wurde damals aus Deutschland geordert, denn in solchen Formaten war es vor Ort nicht zu beziehen. Zunächst per Schiff, dann per Eisenbahn und letztlich mit der Pferdekutsche transportierte man die Fenster nach Paimio. Die Antwort auf die Frage, wie viele der großformatigen Scheiben dabei zu Bruch gingen, ist überraschend: angeblich keine einzige.
Der letzte Stuhl von Paimio
Neben der Architektur waren Aino und Alvar Aalto auch mit der gesamten Innenausstattung des Sanatoriums beauftragt. Sie haben sämtliche Einbauten geplant, ebenso alle Leuchten und Möbel, wie beispielweise den Paimio Chair, der den Patient*innen das Luftholen erleichtern sollte. Anders als die Stahlrohrmöbel des Bauhauses sollte dieser Sessel aus Holz sein, denn „viele von diesen vernickelten und verchromten Stahlmöbeln erschienen uns psychologisch zu hart für ein Milieu kranker Menschen“, schreiben Alvar und Aino Aalto. „Deshalb fingen wir an, mit Holz zu arbeiten, um von diesem warmen und schmiegsamen Material ausgehend durch zweckmäßige Konstruktionen die Basis für einen Möbelstil für Kranke zu schaffen.“ In den Achtzigerjahren empfand man diesen Stuhl allerdings als dermaßen aus der Zeit gefallen, dass man die vielen vorhandenen Originale von 1933 für umgerechnet etwa zehn Euro pro Stück verkaufte – der Rest kam auf den Müll. Unfassbar traurig, dass von den originalen Paimio-Sesseln heute tatsächlich nur noch ein einziger im Sanatorium steht. Von den Original-Aalto-Schränken in den Krankenzimmern hingegen, die die Patient*innen seinerzeit an hängende Särge erinnerten, kann man sich in einem historisch weitgehend erhaltenen Gebäudeteil sein eigenes Bild machen. Sicher hätten diese auf einem Schiff andere Assoziationen geweckt. Und die Vorhänge, ebenfalls ein Entwurf der Aaltos, wurden längst von Artek wieder ins Sortiment mitaufgenommen – ebenso wie der Beistelltisch 606 von Aino Aalto.
Als vielleicht wichtigste Fehleinschätzung der beginnenden Moderne benennt die Paimio-Führerin die Annahme, die richtige Architektur (Licht, Luft, Sonne, Ruhe und Hygiene) könne Tuberkulose heilen. Das habe sich nie bestätigt, denn erst mit Einzug der Antibiotika konnte die Infektionskrankheit erfolgreich bekämpft werden. Schade, hatte Aalto mit seinem Sanatorium doch immerhin bewiesen, dass Gesundheitsbauten neben einem hygienischen auch einem ästhetischen Anspruch folgen können. In Paimio werden Besucher*innen und Gäste bis heute durch freundliche, zitrusgelbe Flure geführt, die Decke des Speisesaals ist opulent, während die großen Fenster auf der Westseite möglichst viel Tageslicht in den Raum lassen. Elegant geschwungene Treppenaufgänge, großzügige Erschließungen, farbenfrohe Markisen und ein weitläufiger Garten: Man wünscht sich, der zeitgenössische Krankenhausbau ließe sich wenigstens in Ansätzen davon inspirieren.