Aus Grau mach Bunt
Beim Chaos Computer Club denkt man fast zwangsläufig an Computerfreaks und Hacker, die in dunklen Kellern illegale Programme schreiben. Dieses Bild muss im 21. Jahrhundert grundlegend revidiert werden. Schließlich ist die Expertise des Clubs inzwischen nicht nur bei Bundesverfassungsgericht und Datenschutzgremien gefragt, auch im kulturellen Bereich initiiert der Club künstlerische Projekte, die im Sinne der Maxime „Spaß am Gerät“ Technik unkonventionell und kreativ einsetzen. Jüngstes Beispiel ist das Projekt „All Colours Are Beautiful“, bei dem der Chaos Computer Club München e.V. ein leer stehendes, ehemaliges Kaufhaus im Münchner Stadtteil Giesing in ein Kunst- und Kulturobjekt verwandelt. Seit dem 10. August präsentiert sich die Fassade des Gebäudes nun als interaktiver „Bildschirm“, dessen „Pixel“ über das Internet gesteuert eingespeist werden.
Früher war es ein großes Kaufhaus, bis vor Kurzem war es nicht mehr als eine leer stehende Ruine, behaftet mit der typischen Tristesse großer Zweckbauten, die ihre Zeit hinter sich haben und nur noch auf die Abrissbirne warten. Letztere kommt, und zwar schon bald: Im September soll das Gebäude an der Tegernseer Landstraße 64 in München abgerissen werden zugunsten eines neues Geschäfts- und Bürokomplexes.
96 Fenster in 16 Millionen Farben
Bis es soweit ist, erwacht die Bauruine jedoch kurzzeitig zu neuem Leben und strahlt in den buntesten Farben. Zu verdanken ist dies dem Münchner Chaos Computer Club, der im Rahmen des Projekts „All Colours Are Beautiful“ jedes der 96 Fenster des vierstöckigen Gebäudes mit einer RGB-LED beleuchtet. Die drei Grundfarben Rot, Grün und Blau werden dabei gemischt und können schließlich 16 Millionen verschiedene Farbwerte darstellen. Die Lampen sind untereinander vernetzt und werden von einem zentralen Computer gesteuert. So wird jedes der 96 Fenster zu einem Pixel eines riesigen Bildschirms.
Für das Projekt arbeitete der Club über mehrere Jahre mit Elektrotechnikern und Künstlern zusammen. Gemeinsam wurden die elektronischen Komponenten sowie verschiedene Programme für die Bespielung entwickelt. So kann jede mit einer LED bestückte Platine, die hinter den mit einem Spezialpapier beklebten Fenstern aufgehängt ist, über Funk, Infrarot, USB oder ein Netzwerk angesteuert werden.
Inhalte via Internet
Animationen und Texte, die auf der Fassade abgespielt werden sollen, können auf der Website des Chaos Computer Clubs München von jedem Internetnutzer über einen speziellen und eigens entwickelten Editor eingegeben werden. Damit lassen sich Farben auf die Fenster setzen oder mit Hilfe von besonderen Funktionen kleine Filme entwerfen, die dann per Mausklick an das Haus gesendet werden. Nach Einbruch der Dunkelheit erwacht das Gebäude schließlich zum Leben und spielt die übermittelten Farbwechsel und Animationen ab. Zu bestimmten Zeiten soll für Passanten und Gäste sogar ein Touch-Terminal aufgestellt werden, über den quasi live mit dem Haus interagiert werden kann. Die jeweiligen Termine gibt der Club über seinen Twitter-Kanal bekannt.
Die Idee: „Blinkenlights“
Entstanden ist die Idee zu „All Colours Are Beautiful“ aus dem Projekt „Blinkenlights“, das 2001 vom Chaos Computer Club Berlin realisiert wurde. Im „Haus des Lehrers“ am Berliner Alexanderplatz wurde hinter jedem Fenster auf selbst gebauten Holzständern ein handelsüblicher Baustrahler installiert. Über je ein Relais wurden die Strahler per zentralem Computer ein- und ausgeschaltet. Über Handy oder per E-Mail konnte jeder seine eigenen Nachrichten auf der Fassade anzeigen lassen. Ähnliche Projekte wurden im Jahr 2002 in der Pariser Bibliothèque Nationale de France sowie 2008 in der City Hall im kanadischen Toronto wiederholt. Durch den Einsatz von Baustrahlern zeigte der „Fassadenbildschirm“ aber lediglich Graustufen von Schwarz bis Weiß. Somit ist das Projekt des Münchner Clubs unter Verwendung von einzeln ansteuerbaren und farbigen LEDs eine konsequente und logische Fortsetzung der Idee.
96 Pixelpaten und ein leuchtender Monat
Finanziert wurde das Projekt – neben viel ehrenamtlicher Arbeitskraft – durch Spenden. So rief der Club per Internet dazu auf, „Pixelpate“ zu werden: Für 23 Euro Spendenbetrag konnte man sich auf der Website sein eigenes Fenster, sprich einen persönlichen Pixel, aussuchen, dessen Farbe man selbst bestimmen konnte. Inzwischen sind alle Pixelpaten gefunden, sodass die 96 Fenster an der Tegernseer Straße für gut einen Monat zum Leuchten gebracht werden können. Bis zum endgültigen Aus für das Gebäude im September mausert sich das Kunstprojekt sogar kurzfristig zum Kulturraum. In jeder Etage finden sich inzwischen temporäre Bars und Ateliers, Installationen und Konzerträume. Fotografen und Streetartisten zeigen ihre Werke, Graffitis zieren das Treppenhaus und auf dem Parkdeck sind bereits Modenschauen und kleine Konzerte geplant. Am Ende seines Daseins erstrahlt das ehemalige Kaufhaus nun noch einmal in den schönsten Farben und strotzt vor Lebendigkeit. Und der graue Zweckbau scheint sich zum ersten Mal sichtlich zu freuen.
FOTOGRAFIE Chaos Computer Club München
Chaos Computer Club München
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