Das offene Haus
Kazuyo Sejima, bekannt als eine Hälfte des japanischen Architekturbüros SANAA, hat in dem Tokioter Geschäftsviertel Shibaura einen Zwitter aus Kulturzentrum und Firmenzentrale gebaut. Inmitten von Bürohäusern steht das gläserne Shibaura House, in dem sich die Büros einer Verlagsgesellschaft befinden, aber eben auch öffentlich zugängliche Bereiche wie ein Café, Werkstätten und ein Vorlesungssaal. Das vertikal gestapelte Raumprogramm wird dabei vollständig durcheinander gemischt, Besucher haben zu allen Bereichen Zutritt und können durch das Gebäude flanieren wie über einen Stadtplatz: Architektur als sozialer Motor in der anonymen Großstadt.
Das Haus bietet von jedem Ort aus einen Blick auf die umgebende Stadt – und umgekehrt ist jeder Winkel des Shibaura House von überall einsehbar. Von den Bewohnern des Viertels wurde der Neuankömmling mit offenen Armen begrüßt – tagsüber wie abends wird das Gebäude von ihnen benutzt. Der offene Grundriss ohne starre Wände definiert den Raum als fließend, Besucher und Mitarbeiter des Verlags vermengen sich: ein fast anarchistisches Nutzungskonzept.
Gestapelte Gärten
Im Gegenteil zu vielen Beispielen aus der Moderne, auf deren Prinzipien die Architekturauffassung von Kazuyo Sejima beruhen, ist das Shibaura House eine Weiterentwicklung – vor allem in sozialer und urbaner Hinsicht. Der halb-öffentliche Raum zieht sich in das Gebäude hinein und schraubt sich mit jeder Etage weiter in die Höhe bis zum bird room im obersten Stockwerk, der für Tanzklassen, Kindergeburtstage und Lesungen gebucht werden kann. Das Café im Erdgeschoss dient als Eingang, von hier aus gelangt man über eine geschwungene Freitreppe in die höher gelegenen Lern- und Besprechungszimmer. Die Stühle sind Varianten des Nextmaruni Chairs von SANAA, dazu kommen in den oberen Aufenthaltsbereichen der Standard Chair von Jean Prouvé und – in den Besprechungsräumen – der Plastic Chair von Charles & Ray Eames.
Auf den Terrassen stehen kleinere Bäume und Sträucher und wirken – im Vergleich zu der umgebenden Bürostadt-Tristesse – wie ein Paradies: die hängenden Gärten von Tokio. Zwischen den unteren Ebenen, die frei zugänglich sind, und dem obersten Stockwerk liegen die Arbeitsbereiche. Durch die dünnen, für Kazuyo Sejima typischen Glaswände öffnen sich auch die innen liegenden Funktionen zueinander. Wie in gläsernen Luftblasen sitzen Menschen, die im Stadtraum zu schweben scheinen.
Plan libre
Die Geschossplatten der Stahlkonstruktion mit davor liegender Glasfassade springen in unregelmäßigen Abständen zurück und geben dadurch Terrassen frei. Die Radikalität dieser Einschnitte wird noch durch die Tatsache vergrößert, dass es keine klassische Absturzsicherung gibt. Einzig ein feines Metallgewebe schützt die Besucher vor der Tiefe. So öffnet und verschränkt sich das Gebäude mit seiner Umgebung, in der es wie ein fragiles Papiermodell sitzt.
Auch die Innenräume öffnen sich zu den Terrassen – es scheint ein von allen statischen Konventionen freier Grundriss zu sein, eine Fortsetzung des unter anderem durch Le Corbusier angewandten Prinzips des plan libre. Wände tragen nicht mehr und können jederzeit versetzt werden, da die Lasten über Stützen abgetragen werden. Das Innere wird so freigelegt, flexibel nutzbar und für jedermann einsehbar.
Im Schweizer Käse
Der freie Grundriss des Gebäudes und die dadurch entstehende Transparenz lassen das Shibaura House weitaus höher wirken, als es eigentlich ist. Von der Idee her ist es eine Fortsetzung des New Yorker New Museum von SANAA, das ebenfalls aus gestapelten Geschossen besteht, – nur dass in diesem Fall die Hüllen „fallen gelassen“ wurden, um den Inhalt komplett sichtbar zu machen. Lediglich die Konstruktionsweisen der beiden Häuser unterscheiden sich: Während der amerikanische Vorgänger über das Verschieben der Raumboxen an seinen Schnittstellen Doppelgeschossigkeit und Balkone erzeugt hat, bleibt das Kulturzentrum als ein kompaktes Volumen erhalten und gelangt doch zum gleichen Ziel, indem es Flächen im Inneren ausspart. Wie bei einem Schweizer Käse sind es runde Öffnungen, die das Innere zerschneiden, neuartige Räume generieren und die Grenzen zwischen außen und innen fast vollständig auflösen.
Doch beiden Projekten ist das Gefühl von Fragilität gleich: dem einen durch das Balancieren von Kisten, dem anderen durch seine feingliedrige Bauweise. Zu der Stahlkonstruktion gesellen sich geschwungene Treppen in den mehrgeschossigen Hohlräumen, die wie Rutschen durch den Raum gleiten. Auch hier gibt es keinen Millimeter zu viel an Materialstärke. Getüncht in Weiß sieht das Haus aus wie ein Architekturmodell – fast zu schön um wahr zu sein!
FOTOGRAFIE Iwan Baan
Iwan Baan
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