Der virtuelle Urknall
Noch bis vor wenigen Monaten war das in der Nähe von Genf gelegene Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire, kurz CERN, in den Schlagzeilen wegen eines spektakulären Experiments: Mit dem Teilchenbeschleuniger LHC, der auf 27 Kilometer rund 100 Meter unter der Erde verlegt ist, wurden die ersten Teilchenkollisionen durchgeführt. Dieser künstlich herbei geführte „Urknall“ sorgte im Vorfeld für Bedenken, nicht wenige Horrorszenarien sagten bereits das Ende der Welt voraus. Nachdem das Experiment im April dieses Jahres glücklicherweise erfolgreich verlief, wird nun das Phänomen Urknall den Besuchern des CERN begreifbar gemacht – virtuell und interaktiv in der Dauerausstellung Universe of Particles. Realisiert wurde das Besucher-Universum en miniature vom Stuttgarter Atelier Brückner zusammen mit dem Medienfirmen iart interactive und tegoro solutions sowie dem Schweizer Lichtplaner Rolf Derrer.
Schon seit 1954 erforschen Physiker aus der ganzen Welt am CERN die Grundlagen unserer Existenz. In den 1980er Jahren begannen die Arbeiten für den Tunnel zwischen dem Juragebirge in Frankreich und dem Genfer See in der Schweiz, in dem sich nun der Teilchenbeschleuniger LHC befindet. Das Besucherzentrum wird bereits seit 2004 für Vorträge und Fortbildungen genutzt, seit dem 1. Juli ist im Erdgeschoss des Zentrums nun die Dauerausstellung Universe of Particles zu sehen: auf 450 Quadratmeter in einem 27 Meter hohen, kuppelförmigen Pavillons. Der Pavillon wurde eigentlich von Thomas Büchi und Hervé Dessimoz als „Palais de L‘Equilibre“ für die Schweizer Expo 02 entworfen – zusammengesetzt aus dem Holz von Peter Zumthors Schweizer Pavillon der Expo 2000 in Hannover.
Ein virtueller Blick in den Teilchenbeschleuniger
Das von Atelier Brückner entwickelte Designkonzept für die Ausstellung basiert auf der Verwendung runder Formen und orientiert sich an der kuppelförmigen Architektur, die als Metapher für den unbegrenzten Raum gelesen werden kann. In Anlehnung an das geläufige Bild eines Atoms sind auch alle Gegenstände im Raum rund gestaltet: Von den Vitrinen, über die Sitzgelegenheiten und interaktiven Stationen bis hin zu den Verhüllungen für die Projektoren und dem zentral platzierten Podest. Diese Scheibe von 5,5 Metern Durchmesser, die sich den Besuchern leicht entgegenneigt, dient als Display, auf das Daten der wissenschaftlichen Experimente im Teilchenbeschleuniger projiziert werden.
Für den sogenannten Interactive Ball entwickelte iart interactive ein von innen her auf die transluzente Kugel projiziertes Feld, das die Illusion eines ovalen Fensters vermittelt, welches den Blick in die Kugel hinein erlaubt. Hier kommen schließlich Himmelskörper auf die Besucher zu, oder das Universum öffnet sich unversehens dem Blick. Auch ein 360-Grad-Blick in die unterirdischen Architekturen des LHC, die seit dem Beginn der Teilchenkollisionen im April 2010 aus Sicherheitsgründen nicht mehr zugänglich sind, ist über den Interactive Ball möglich. Um das zentrale Display gruppieren sich schließlich die verschiedenen Ausstellungsbereiche, die in beliebiger Reihenfolge erschlossen werden können: Mysterious Worlds, LHC – Large Hadron Collider, Detecting Particles, Science without Borders und In their own words.
Kugeln und Lichtschatten
Verbindendes Gestaltungselement ist neben der runden Formensprache, die einheitlich weiße Farbe der Objekte sowie ein umspielender Lichtkreis zu Füßen jedes Displays. So entstehen „Lichtschatten“, die die Displays herausheben und diese scheinbar frei im Raum schweben lassen. Diese ähnlich geformten Objekte dienen jedoch unterschiedlichen Zwecken. So sind zum Beispiel in den kugelförmigen Vitrinen wichtige Objekte aus der Forschung des CERN ausgestellt, wie der erste World-Wide-Web-Server oder der erste Teilchenbeschleuniger. Über sogenannte „Touchballs“ lassen sich weitere, medial aufbereitete Informationen abrufen: Hier erscheinen die hinterlegten Themenkomplexe als leuchtende Kugeln, frei im Raum schwebend. Durch Berührung lassen sie sich aktivieren und zeigen neben Texten und Bildern auch Filme und Animationen.
Im Ausstellungsbereich LHC – Large Hadron Controller kann der Teilchenbelschleuniger an einem interaktiven Medientisch intuitiv erforscht werden. Eine Luftaufnahme des CERN-Areals mit der unterirdischen Kreisform des LHC dient als Interface und Übersicht. Über Berührung können mehrere Nutzer gleichzeitig über das Gelände navigieren und bis zu 20 „Fenster“ in unterirdische Welten öffnen, die sich über den Tisch bewegen lassen.
Die Welt der Forscher
Als riesiger Trackball gestaltet, der in einen Sockel eingebettet mit beiden Händen gedreht werden kann, ist der Interactive Globe das Hauptdisplay im Ausstellungebereiche Science without Borders. Thematisch wird hier die internationale Zusammenarbeit von rund 10 000 Wissenschaftlern beschrieben, die an den Forschungen am CERN teilnehmen sowie die Geschichte des CERN. Um die nüchternen Fakten intuitiv und spielerisch zu vermitteln, können die Besucher die Kugel drehen, wobei sich die Oberfläche entsprechend der Rollbewegung verändert. So wird eine komplett gestaltete Erdoberfläche suggeriert, die nur auf einer Seite angestrahlt ist. Die Bilder entstehen als Projektion auf die weiße Kugeloberfläche. Über eine eingebaute Sensorik, die an bestimmten Punkten erscheint und sich durch das Rollen der Kugel ansteuern lassen, können weitere Texte und Bilder abgerufen werden. Zum Zurückziehen und Entspannen laden im Bereich In their own words fünf schwarze Halbkugeln im Stil des klassischen Ball Chair ein, in denen die Besucher den Physikern vom CERN zuhören können, wie sie in ihrer Muttersprache über ihre Experimente und Spezialgebiete berichten.
Der inszenierte Urknall
Höhepunkt der Ausstellung ist schließlich „The Main Show“, eine raumfüllende Film-Klang-Lichtchoreografie, durch die der Ausstellungsraum selbst zu einem Exponat avanciert. In der sechsminütigen Inszenierung fahren jede halbe Stunde die interaktiven Stationen im Ausstellungsraum herunter, Wand- und Bodenflächen geraten durch projizierte Bilder in pulsierende Bewegung. Die Lichtschatten aller Displays werden farbig, auf den gebogenen Raumwänden sind Filme zu sehen, die physikalische Phänomene wie schwarze Materie oder Antimaterie zu visualisieren vermögen. Es bewegen sich Teilchen scheinbar aus den Wänden heraus und auf den Betrachter zu oder Daten scheinen durch den Raum zu fliegen – so soll dem Besucher, der mitten in dieser Rumdum-Projektion steht, der Urknall emotional näher gebracht werden.
Die emotionale Erfahrung und das intuitiv-spielerische Verstehen komplexer physikalische Phänomene werden für den Besucher durch Material, Licht und Klang zu einem umfassenden Raumerlebnis. Auf der runden Ausstellungsfläche stellt sich nichts dem umher schweifenden Blick entgegen, geschaffen wurde eine kleine Welt ohne feste Maßstäbe. Bisher empfing das CERN Besucherzentrum rund 25 000 Gäste pro Jahr. Mit der neuen Universe-of-Particles-Ausstellung dürften es einige mehr werden, die die Energie des Urknalls nicht nur verstehen, sondern auch virtuell erfahren möchten.
FOTOGRAFIE Michael Jungblut
Michael Jungblut
Links