Ein Haus als weiße Leinwand
Residenz in Singapur von Ministry of Design
Inmitten einer historischen Kulisse in Singapur realisierte das ortsansässige Büro Ministry of Design mit dem Canvas House eine Langzeitresidenz, in der Raum, Möbel und Zeit eins werden – und sich die Gäste auf Spurensuche der Vergangenheit begeben können.
Die Blair Road im Insel- und Stadtstaat Singapur sticht heraus. Ihre liebevoll restaurierten Shophouses, eine Art Wohnhäuser mit Verkaufsfunktionen, verfügen über reichlich Fassadendekorationen. Und das mit einer äußerst farbenfrohen Palette: mal in frischen Pastelltönen, mal mit starken Kontrasten, hier und da gespickt mit den geometrisch-floralen Mustern traditioneller Peranakan-Fliesen. In dieser malerischen Szenerie zwischen den dicht an dicht stehenden Häuschen des 20. Jahrhunderts befindet sich eine Residenz, in deren Suiten sich Gäste drei bis zwölf Monate einmieten können.
„Der Auftrag verlangte eine Intervention, die für Langzeitmieter absolut attraktiv ist und mit der sich das Co-Living-Haus abheben kann“, sagt Designer Colin Seah, der mit einem fixen Budget und einer kurzen Zeitspanne für Gestaltung und Ausstattung des 350 Quadratmeter großen, vierstöckigen Wohnhauses zurechtkommen musste. Keine leichte Aufgabe. Doch der Gründer des Architektur-, Innenarchitektur- und Brandingbüros Ministry of Design schreibt sich auf die Fahne, Konventionen zu hinterfragen sowie Räume, Formen und Erfahrungen neu zu definieren. Diese Haltung sollte ihm beim Canvas House zugutekommen.
Tabula rasa
Seah stellte fest, dass Renovierungen, die sich stets im Spannungsfeld von Bewahrung und Erneuerung befinden, leicht entweder zu einengenden oder oft zu einengenden oder aber zu übertrieben neuen und fremdartigen Lösungen führen. führten. Diesen Impetus wollte er durchbrechen und fragte sich, wie man die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart auflösen könnte. So machte er mit dem Canvas House zunächst einmal Tabula rasa – und das wortwörtlich. „Unsere Antwort bestand darin, die bestehende Geschichte mit einer sprichwörtlich leeren Leinwand zu überlagern und dabei choreografierte Einblicke in die Vergangenheit zu hinterlassen“, kommentiert er. Somit verfolgt der Architekt zugleich ästhetische und konzeptionelle Ansätze.
Er überzog das Innere der Räume fast vollständig mit weißer Farbe – Wände, Böden und Decken, genauso wie Treppen, Fensterrahmen und Mobiliar. Sogar Ventilatoren und Beleuchtungen sind in Weiß gehalten. So zielte Seah einerseits auf ein Upcycling der alten Möbel im Apartment ab, was sich als nachhaltige und budgetfreundliche Entscheidung erwies. Andererseits wollte er mit dieser einheitlichen Gestaltung die Grenzen zwischen Objekt und Raum, Wand und Boden wie auch zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auflösen.
Gucklöcher in die Vergangenheit
Um der Geschichte des Hauses dennoch Respekt zu zollen und ihm Charakter zu verleihen, fand Ministry of Design eine spielerische Lösung, die sich punktuell durch das gesamte Interior zieht: Auf den weiß überzogenen Oberflächen wurden bestimmte Stellen ausgelassen, damit sie den Blick auf darunter liegende Materialien, Texturen und Farben freigeben. So findet man Steinmauern, Treppenstufen und Paravents mit kreisrunden Aussparungen sowie Vasen und Teller, auf denen ausschnitthaft ihre einstigen Muster und historischen Details sichtbar werden.
Während diese „Gucklöcher“ meist runde Formen aufweisen, entwarf Seah für das Schafzimmer ein kantiges Format: Auf dem Holzboden unter dem Bett ließ er einen Umriss frei, der einen imaginären Schattenwurf imitiert. Im Essbereich wagte er sich sogar mit Farbe an die Wandgestaltung. Hierfür entwarf er einen Schriftzug aus weiß-rötlichem Neonlicht, der das gesamte Innenraumkonzept inhaltlich zusammenfasst. Die Neonbuchstaben bilden das Zitat „I like the dreams of the future better than the history of the past” („Mir gefallen die Träume von der Zukunft besser als die Geschichte der Vergangenheit.“) von Thomas Jefferson, einem der Gründerväter der Vereinigten Staaten, ab.
Dieser leuchtende Satz verkörpere den Geist des Hauses, eine neutrale weiße Leinwand für die Zukunft, von der man in diesen Räumen träumen könne, meint der asiatische Gestalter. In jedem Fall gibt es im Canvas House eine Menge ungewöhnlicher Designlösungen, die für einen temporären Aufenthalt sicher inspirierend wirken und den Kontext der hübschen historischen Straße noch bereichern.
FOTOGRAFIE Edward Hendricks | CI&A Photography
Edward Hendricks | CI&A Photography