Projekte

Genfer Wahrnehmungsmaschine

Vorhang auf für ein Apartment von Bureau

Die Architektur des Wohngebäudes in Genf war schlicht bis nüchtern, das offene Layout der ehemaligen Zahnarztpraxis eine blanke Leinwand. Beste Voraussetzungen für eine konventionelle Modernisierung. Allerdings hatten die Architekt*innen von Bureau anderes im Sinn. Statt Wänden bauten sie Vorhangschienen ein und schufen so ein fluides Layout mit theatralen Momenten.

von Tanja Pabelick, 20.11.2023

Um Funktionsbereiche einer Wohnung voneinander zu trennen, werden meist Wände gemauert. Allerdings wird mit ihnen jede Umstrukturierung zu einer baulichen Maßnahme – und mit einer gängigen Breite von 12 Zentimetern ziehen Wände wertvolle Fläche von den nutzbaren Quadratmetern ab. Bureau, ein von Daniel Zamarbide, Carine Pimenta und Galliane Zamarbide in Genf gegründetes Architekturstudio, geht bei seinen Raumlösungen nicht immer den naheliegenden oder konventionellen Weg. Für den Entwurf werden Bestand, Milieu, Nutzer*innen und Ansprüche analysiert und Standards auf dem Weg zur Lösung bewusst außen vor gelassen. Projekte von Bureau haben manchmal organische Höhlenstrukturen aus Gips, bohren Treppenschrauben durch Betonetagen oder strukturieren ein Wohnhaus mit Glaswänden wie ein Puppenhaus. Ihr jüngstes Projekt in Genf verzichtet weitgehend auf Wände und bringt damit die gesamte Wohnlandschaft in den Fluss.

Flexibel wie die Vita
Die Geschichte des kleinen und architektonisch schlichten Stadthauses begann in den Achtzigern mit einer Mischnutzung aus Künstlerateliers, Gewerbeflächen und Wohnungen. Das von Bureau transformierte Apartment liegt in der obersten Etage des Blocks und war zuletzt eine Zahnarztpraxis. Alle Fenster weisen nach Norden und laufen entlang einer der Längsseiten. Zwei wie kleine Giebeldächer ausgeführte Oberlichter sind orthogonal dazu quer positioniert. Nach der konsequenten Öffnung des Layouts ergab sich ein einziger großer Raum mit 120 Quadratmetern. Ganz bewusst entschied sich Bureau, eine neue Form der Raumstrukturierung zu installieren. „Tausende von Wohnungen, die nach offiziellen Normen und Vorschriften geplant und gebaut werden, folgen einem ganz bestimmten Familienbild. Wie jeder weiß und erfährt, ist das Leben manchmal ziemlich holprig oder sogar unvorhersehbar. Wie nehmen Wohnungen und Häuser diese Bewegungen des Lebens auf?“, fragen die Architekt*innen.

Textile Grenzen
Die amerikanische Architektin Mary Otis Stevens beschrieb die Dynamik des menschlichen Miteinanders einst als „Flux of Life“. Stevens entwarf Mitte der Sech­zi­ger­jah­re das bekannte Lincoln House und wollte damit belegen, dass es funktionierende Grundrissalternativen zum amerikanischen Standard-Einfamilienhaus gibt. Sie gestaltete das Lincoln House ohne Türen, interne Wände und räumliche Hierarchien – Ideen, die die Gestalter*innen von Bureau in ihrem Entwurf für das Genfer Apartment aufgriffen. Sie stellten zwar eine Wand aus schlankem Holz und großformatigem Glas ein, um einen abschließbaren Bereich für die Kinder zu schaffen, ließen in der übrigen Wohnung aber jede Menge Textil die Aufgabe der Raumtrennung übernehmen.

Privatsphäre in Layern
Ob Türen für den Kleiderschrank, Duschvorhänge oder Raumgrenzen für das Elternschlafzimmer – wo ein Bereich visuell abgeschirmt werden soll, verlaufen einbahnige Vorhangschienen in Blau und Rosa. Mit organischem Schwung und weichen Kurven wurden sie an der Decke installiert und erlauben die konsequente Öffnung oder temporäre Trennung. „Das ganze Haus wird zu einer die Wahrnehmung verändernden Maschine, wenn sich Textilien, Möbel und Licht mühelos entfalten und verschiedene Situationen hervorrufen, visuell und erfahrungsbezogen“, beschreibt Bureau. Mit dem Öffnen und Schließen der Textilbahnen können bestimmte Bereiche des Apartments nach dem Zwiebelprinzip versteckt werden. Sind alle Vorhänge geöffnet, herrscht komplette Durchsicht.

Wie eine Bühne fürs Leben
Der Bereich der Kinder, bestehend aus Schlaf- und Ankleidezimmer mit Bad, liegt an einer Querseite hinter Glasfenstern. Über den Tag hinweg gibt es trotz akustischer Abschirmung eine durchgehende Sichtachse, abends können die Vorhänge vor den Fenstern geschlossen und Privatsphäre hergestellt werden. Gegenüber ist das Elternschlafzimmer, das stärker an den Wohnbereich angeschlossen ist. Selbst der an der Wand positionierte Duschbereich lässt sich vorzeigen. Im familiären Alltag kann der Raum offen bleiben. Kommen Gäste, so lassen sich die Vorhänge um Nasszone und Bett schließen, Privates verbergen oder Unordnung verstecken. Das Apartment wird zu einer dynamischen Theaterbühne, auf der sich in jedem Moment etwas bewegen und verschieben kann.

Facebook Twitter Pinterest LinkedIn Mail
Links

Entwurf

BUREAU

www.bureau.ac

Mehr Projekte

Das Wohnregal

Ein 45-Quadratmeter-Apartment von Atelier tao+c in Shanghai

Ein 45-Quadratmeter-Apartment von Atelier tao+c in Shanghai

Die perfekte Welle

Wohnhaus von Omer Arbel in Vancouver fertiggestellt

Wohnhaus von Omer Arbel in Vancouver fertiggestellt

Nüchterne Stringenz

Apartment von Demo Working Group in Köln

Apartment von Demo Working Group in Köln

Wohnhaus als Food-Labor

Maison Melba von Atelier L’Abri in Quebec

Maison Melba von Atelier L’Abri in Quebec

Verspielter Brutalismus

Casa Alférez in Mexiko von Ludwig Godefroy Architecture

Casa Alférez in Mexiko von Ludwig Godefroy Architecture

Alles für die Katz

Ein tierliebes Apartment in Japan von Hiroyasu Imai

Ein tierliebes Apartment in Japan von Hiroyasu Imai

Stille Ecke

Pretziadas La Residenza auf Sardinien

Pretziadas La Residenza auf Sardinien

Im Bauch des Wals

Nachhaltiges Wohnhaus von PMMT in Girona

Nachhaltiges Wohnhaus von PMMT in Girona

Monolith im Laubwald

Gut getarnte Memphis-Hommage von Jean Verville

Gut getarnte Memphis-Hommage von Jean Verville

Hölzerner Anbau

Ein erweitertes Londoner Reihenhaus von Christian Brailey Architects

Ein erweitertes Londoner Reihenhaus von Christian Brailey Architects

Avantgardistische Pop-Collage

Ein Apartment ganz in Pastell von AMOO

Ein Apartment ganz in Pastell von AMOO

Erdige Moderne

Villa im Olivenhain vom spanischen Büro Balzar Arquitectos

Villa im Olivenhain vom spanischen Büro Balzar Arquitectos

Kulturelle Schnittstelle

Neue Showrooms von JUNG in Europa und Asien

Neue Showrooms von JUNG in Europa und Asien

Sandstrand am Stadtrand

Eine portugiesische Landhütte von Pedro Henrique

Eine portugiesische Landhütte von Pedro Henrique

Umarmte Geschichte

Ein Altbau mit Anbau und Aufbau in Melbourne von Edition Office

Ein Altbau mit Anbau und Aufbau in Melbourne von Edition Office

Geretteter Bestand

Transformation einer Villa aus den Fünfzigerjahren

Transformation einer Villa aus den Fünfzigerjahren

Licht im Gewölbe

Apartmentumbau in Valencia von Balzar Arquitectos

Apartmentumbau in Valencia von Balzar Arquitectos

Terrasse und Terrazzo

Farbenfroher Neustart für ein australisches Wohnhaus von Wowowa

Farbenfroher Neustart für ein australisches Wohnhaus von Wowowa

Schwebende Treppe

Ein raumsparendes Pariser Apartment von Heju

Ein raumsparendes Pariser Apartment von Heju

Flugrouten für Vögel

The Veranda House von Studio Espaazo in Ahmedabad

The Veranda House von Studio Espaazo in Ahmedabad

Besondere Böden

Fünf Projekte mit ungewöhnlicher Bodengestaltung

Fünf Projekte mit ungewöhnlicher Bodengestaltung

Mut zum Muster

Luftiger Umbau in Barcelona von Raúl Sánchez

Luftiger Umbau in Barcelona von Raúl Sánchez

Kunst unter den Füßen

Atelierwohnung in Prag von Tereza Porybná und Objektor Architekti

Atelierwohnung in Prag von Tereza Porybná und Objektor Architekti

Tokioter Schlafkapsel

Eine ungewöhnliche Raum-im-Raum-Lösung von Takehiko Suzuki

Eine ungewöhnliche Raum-im-Raum-Lösung von Takehiko Suzuki

Stein auf Stein

Mallorquinisches Wohnhaus aus Ziegeln von Nøra Studio

Mallorquinisches Wohnhaus aus Ziegeln von Nøra Studio

Kupferkleid auf Beton

Mehrfamilienhaus von Edition Office im Nordosten von Melbourne

Mehrfamilienhaus von Edition Office im Nordosten von Melbourne

Inspiriert von Japan

Rückzugsort in Australien von Dane Taylor Design

Rückzugsort in Australien von Dane Taylor Design

Neustart im Altbau

Eine posthumane KI-Intervention in Valencia

Eine posthumane KI-Intervention in Valencia

Ton in Ton

Neubau aus Naturmaterialien von MESURA in Spanien

Neubau aus Naturmaterialien von MESURA in Spanien

Dreiteiliges Familiendomizil

Mostlikely baut im österreichischen Klosterneuburg

Mostlikely baut im österreichischen Klosterneuburg