Genfer Wahrnehmungsmaschine
Vorhang auf für ein Apartment von Bureau

Die Architektur des Wohngebäudes in Genf war schlicht bis nüchtern, das offene Layout der ehemaligen Zahnarztpraxis eine blanke Leinwand. Beste Voraussetzungen für eine konventionelle Modernisierung. Allerdings hatten die Architekt*innen von Bureau anderes im Sinn. Statt Wänden bauten sie Vorhangschienen ein und schufen so ein fluides Layout mit theatralen Momenten.
Um Funktionsbereiche einer Wohnung voneinander zu trennen, werden meist Wände gemauert. Allerdings wird mit ihnen jede Umstrukturierung zu einer baulichen Maßnahme – und mit einer gängigen Breite von 12 Zentimetern ziehen Wände wertvolle Fläche von den nutzbaren Quadratmetern ab. Bureau, ein von Daniel Zamarbide, Carine Pimenta und Galliane Zamarbide in Genf gegründetes Architekturstudio, geht bei seinen Raumlösungen nicht immer den naheliegenden oder konventionellen Weg. Für den Entwurf werden Bestand, Milieu, Nutzer*innen und Ansprüche analysiert und Standards auf dem Weg zur Lösung bewusst außen vor gelassen. Projekte von Bureau haben manchmal organische Höhlenstrukturen aus Gips, bohren Treppenschrauben durch Betonetagen oder strukturieren ein Wohnhaus mit Glaswänden wie ein Puppenhaus. Ihr jüngstes Projekt in Genf verzichtet weitgehend auf Wände und bringt damit die gesamte Wohnlandschaft in den Fluss.
Flexibel wie die Vita
Die Geschichte des kleinen und architektonisch schlichten Stadthauses begann in den Achtzigern mit einer Mischnutzung aus Künstlerateliers, Gewerbeflächen und Wohnungen. Das von Bureau transformierte Apartment liegt in der obersten Etage des Blocks und war zuletzt eine Zahnarztpraxis. Alle Fenster weisen nach Norden und laufen entlang einer der Längsseiten. Zwei wie kleine Giebeldächer ausgeführte Oberlichter sind orthogonal dazu quer positioniert. Nach der konsequenten Öffnung des Layouts ergab sich ein einziger großer Raum mit 120 Quadratmetern. Ganz bewusst entschied sich Bureau, eine neue Form der Raumstrukturierung zu installieren. „Tausende von Wohnungen, die nach offiziellen Normen und Vorschriften geplant und gebaut werden, folgen einem ganz bestimmten Familienbild. Wie jeder weiß und erfährt, ist das Leben manchmal ziemlich holprig oder sogar unvorhersehbar. Wie nehmen Wohnungen und Häuser diese Bewegungen des Lebens auf?“, fragen die Architekt*innen.
Textile Grenzen
Die amerikanische Architektin Mary Otis Stevens beschrieb die Dynamik des menschlichen Miteinanders einst als „Flux of Life“. Stevens entwarf Mitte der Sechzigerjahre das bekannte Lincoln House und wollte damit belegen, dass es funktionierende Grundrissalternativen zum amerikanischen Standard-Einfamilienhaus gibt. Sie gestaltete das Lincoln House ohne Türen, interne Wände und räumliche Hierarchien – Ideen, die die Gestalter*innen von Bureau in ihrem Entwurf für das Genfer Apartment aufgriffen. Sie stellten zwar eine Wand aus schlankem Holz und großformatigem Glas ein, um einen abschließbaren Bereich für die Kinder zu schaffen, ließen in der übrigen Wohnung aber jede Menge Textil die Aufgabe der Raumtrennung übernehmen.
Privatsphäre in Layern
Ob Türen für den Kleiderschrank, Duschvorhänge oder Raumgrenzen für das Elternschlafzimmer – wo ein Bereich visuell abgeschirmt werden soll, verlaufen einbahnige Vorhangschienen in Blau und Rosa. Mit organischem Schwung und weichen Kurven wurden sie an der Decke installiert und erlauben die konsequente Öffnung oder temporäre Trennung. „Das ganze Haus wird zu einer die Wahrnehmung verändernden Maschine, wenn sich Textilien, Möbel und Licht mühelos entfalten und verschiedene Situationen hervorrufen, visuell und erfahrungsbezogen“, beschreibt Bureau. Mit dem Öffnen und Schließen der Textilbahnen können bestimmte Bereiche des Apartments nach dem Zwiebelprinzip versteckt werden. Sind alle Vorhänge geöffnet, herrscht komplette Durchsicht.
Wie eine Bühne fürs Leben
Der Bereich der Kinder, bestehend aus Schlaf- und Ankleidezimmer mit Bad, liegt an einer Querseite hinter Glasfenstern. Über den Tag hinweg gibt es trotz akustischer Abschirmung eine durchgehende Sichtachse, abends können die Vorhänge vor den Fenstern geschlossen und Privatsphäre hergestellt werden. Gegenüber ist das Elternschlafzimmer, das stärker an den Wohnbereich angeschlossen ist. Selbst der an der Wand positionierte Duschbereich lässt sich vorzeigen. Im familiären Alltag kann der Raum offen bleiben. Kommen Gäste, so lassen sich die Vorhänge um Nasszone und Bett schließen, Privates verbergen oder Unordnung verstecken. Das Apartment wird zu einer dynamischen Theaterbühne, auf der sich in jedem Moment etwas bewegen und verschieben kann.
FOTOGRAFIE Dylan Perrenoud Dylan Perrenoud
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