Heiliges Häuschen
Neugestaltung einer bretonischen Kapelle von Ronan Bouroullec
Die Chapelle Saint-Michel de Brasparts liegt auf einem bretonischen Hügel. Mit ihrer prominenten Lage auf dem höchsten Punkt ist sie traditionell ein Ort, den die Bewohner*innen der Gegend nutzen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Aber auch die innere Einkehr ist Thema des Hauses. Ronan Bouroullec hat bei der Modernisierung des Interiors den kontemplativen Moment in den Mittelpunkt gestellt.
Spartanisch und asketisch war die kleine, rechteckige Kapelle auf dem Mont Saint-Michel de Brasparts in der Bretagne schon immer – außen wie innen. Auf dem rohen Steinboden standen traditionell ein paar zusammengezimmerte Holzbänke, der Altar mit einfachen Votivgaben war aus drei groben Steinplatten aufgebaut worden. Auf den einen Meter dicken und mit Kalk verputzten Mauern ruht auch heute noch ein Schieferdach, gestützt von einem Gebälk aus Eichenholz. Das aktuelle Gebäude ersetzte Ende des 17. Jahrhunderts einen keltischen Tempel, der zur Sonnenanbetung genutzt worden war. Der „Neubau“ blieb ein religiöser Andachtsraum, wurde aber auch Schutzraum und Pilgerstätte sowie Landmarke. Wie ein Gipfelkreuz steht das simple Steinhäuschen auf dem höchsten Punkt des Hügels – und damit auf 381 Metern Höhe. Wer hier nach dem Aufstieg ankommt, erhält auch Einlass: Die Tür steht allen Besucher*innen offen, zu ihr gibt es nicht einmal einen Schlüssel.
Hommage an die Heimat
Als im Herbst 2022 am Hügel ein Feuer wütete, fraß es sich bis kurz vor die Mauern der Kapelle Saint-Michel de Braspart. Das Ereignis wurde zum Anlass genommen, die Innenräume der Kapelle zeitgenössisch, aber mit Respekt vor Funktion und Geschichte neu zu gestalten. Das Design übernahm Ronan Bouroullec, der die Gegend gut kennt und heute mit seinem Bruder Erwan ein Designstudio in Paris führt. Er ist in Quimper im Süden der Bretagne aufgewachsen. Fuhr er zu seinen Großeltern in den Norden, so nahm er die Straße durch die Arrée-Berge und passierte auf jeder Fahrt die Kapelle. Auch die gelegentlich auftretenden Feuer sind ihm vertraut, bereits in den Siebzigerjahren stand der Hügel in Flammen und Ronan Bouroullec erinnert sich an „ein geheimnisvolles Leuchtfeuer in der Ferne“ und „ das eindringliche Bild der geschwärzten Landschaft, von der sich die blassere Form der Kapelle abhob“.
Aus der Landschaft für den Ort
Seine frühen Erinnerungen sollten Ronan Bouroullec bei der Neugestaltung zur Inspiration werden. Er arbeitete bewusst nicht mit einer funktionalen Orientierung an der Raumgestaltung, sondern intuitiv, träumerisch und synästhetisch. Die Kapelle soll nicht einfach die Erwartungen erfüllen, die Besucher*innen vielleicht an einen ikonografischen, religiösen Ort haben, sondern vor allem eine Erfahrung bieten. Die Wahl der drei vorrangig eingesetzten Materialien stellt einen unmittelbaren Bezug zur Umgebung her, der Gestalter hat sie aus dem Standort und den verfügbaren Ressourcen abgeleitet. Zunächst ist da Nuit Celtique de Huelgoat, ein dunkler Granit, der von weißen Einschlüssen durchsetzt ist. Er stammt aus dem gerade einmal 15 Kilometer Luftlinie entfernt liegenden Brennilis und bildet den dreiteiligen Konsolentisch. Dazu kommt geschmiedeter und gehämmerter Stahl, aus dem Kreuz und Kerzenleuchter von einem metallverarbeitenden Künstler gefertigt wurden. Das dritte Element ist Glas. Mit ihm ließ Ronan Bouroullec einen kreisförmigen Spiegel herstellen, der wie ein drittes Fenster hinter dem Altar an der Wand hängt.
Doppelter Dreiklang
Alle der zugleich künstlerischen, dekorativen und funktionalen Elemente sind dem Designer zufolge „schwer genug, um nicht bewegt zu werden, robust genug, um nicht beschädigt zu werden, rau genug, um nicht gereinigt werden zu müssen“. Neben ihrem formal reduzierten Erscheinungsbild sollen die Objekte für eine starke sinnliche Erfahrung sorgen. Bouroullec gelingt das über Texturen, Proportionen und Licht. Keine Linie ist gerade, keine Oberfläche glatt, keine Kante folgt dem rechten Winkel. Dadurch gehen die Dinge in den Dialog mit ihrer Umwelt. Die an eine bewegte Wasseroberfläche erinnernde Scheibe und die Facetten der Metallobjekte reflektieren den Kerzenschein oder das einfallende Tageslicht. Ronan Bouroullec erzeugt ein Spiel der Harmonie und Kontraste. Ob bei den Farben, die sich aus einer Palette natürlicher Holznuancen, kühler Grautöne und dem kalkigen Weiß der Wände zusammensetzen, oder den Oberflächen, die mal schroff und mal weich wirken.
Lob des Schattens
Wie bereits in der Vergangenheit geschehen, wünscht sich Ronan Bouroullec auch für die Zukunft, dass die Nutzer*innen sich die Kapelle als Ort aneignen. Gerade die minimalistische Ausstattung lässt viel Raum für Fantasie und individuelle Interpretation – und strahlt gleichzeitig mit ihrer sakralen Reduktion Erhabenheit und Anmut aus. Ronan Bouroullec zieht aufgrund des Dreiklangs aus drei Elementen – Licht, Textur und organischer Formensprache – und drei Materialien – Granit, Stahl und Glas – den Vergleich zu einem japanischen Haiku. Die klassische japanische Lyrikform beschreibt ein ganzes Universum in drei Zeilen. In dem Text „Lob des Schattens“ von Junichiro Tanizaki findet Ronan Bouroullec schließlich auch die passende Beschreibung der Stimmung in der von ihm neu gestalteten Kapelle: „Wir spüren, dass die Luft an diesen Orten eine Schicht der Stille umschließt, dass eine ewig unveränderliche Gelassenheit über dieser Dunkelheit herrscht".
FOTOGRAFIE Claire Lavabre - Studio Bouroullec
Claire Lavabre - Studio Bouroullec