Ort der Entfaltung
Reggio-Schule von Office for Political Innovation in Madrid
In der spanischen Hauptstadt zieht ein sechsgeschossiger Schulbau die Blicke auf sich. Der Entwurf stammt von Andrés Jaque und seinem Office for Political Innovation. Statt in die Fläche zu gehen, werden Unterrichtsräume, Turnhalle, Pausenhof und Garten übereinander gestapelt. Die Architektur soll neue Formen der Interaktion zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen unterstützen. Die Fassaden dienen als Biotop.
Eine Schule darf nicht wie eine Kaserne aussehen. Für die Zeit im Leben eines Kindes, in der alles offen steht, sollte die Architektur eine inspirierende Komponente entwickeln. Sie sollte Gedanken beflügeln, statt sie einzuengen. Genau das ist dem Architekten Andrés Jaque gelungen. Seinem in Madrid und New York ansässigen Office for Political Innovation ist ein soziologischer Anspruch bereits eingeschrieben. Die gebaute Umwelt sieht Andrés Jaque als Werkzeug, um nicht nur das Leben der Menschen besser zu machen, sondern ebenso die Gesellschaft. In Madrid hat er nun eine Schule errichtet, die diesen Anspruch in die gebaute Realität umsetzt.
Raum der Ermöglichung
„Der Entwurf der Reggio-Schule basiert auf der Idee, dass architektonische Umgebungen in Kindern den Wunsch nach Erkundung und Erforschung wecken können“, sagt Andrés Jaque. „Auf diese Weise wird das Gebäude als ein komplexes Ökosystem betrachtet, das es den Schüler*innen ermöglicht, ihre eigene Bildung durch einen Prozess des selbstbestimmten kollektiven Experimentierens zu steuern“, erklärt der spanische Architekt. Das Konzept der Reggio-Schule basiert auf den pädagogischen Ideen, die der Lehrer Loris Malaguzzi in den 1970er Jahren in der italienischen Stadt Reggio Emilia entwickelt hat, um Kindern individuellere Möglichkeiten der Entfaltung zu bieten.
Inklusiver Ansatz
In die Planung des Gebäudes wurden die zukünftigen Nutzer*innen mit eingebunden. Andrés Jaque sprach mit Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern, um ihre Ideen, Befindlichkeiten, aber ebenso Bedenken zu erfahren. Ein Aspekt, der sich dabei als besonders wichtig herauskristallisierte, war die soziale Interaktion. Die Schule sollte das genaue Gegenteil von Ausgrenzung und Isolation definieren. Kurzum: Es sollte ein Haus sein, das sich nicht nur nach außen öffnet, sondern vor allem auch im Inneren Überschneidungen und Durchmischungen erlaubt, um den Kindern die Möglichkeit zu geben, ihre Potenziale voll auszuschöpfen. Die Umsetzung erfolgte durch eine räumliche Verdichtung, genauer gesagt durch den Sprung in die Höhe.
Vertikal statt horizontal
Damit wählte Andrés Jaque genau den umgekehrten Ansatz zu den Schulbauinitiativen in Berlin und anderen deutschen Städten, wo selbst in hochverdichteten Innenstadtlagen provinzielle Flachbauten errichtet werden. „Die Stapelung der Vielfalt dient als Umfeld für die Selbstbildung. Unter Vermeidung von Homogenisierung und einheitlichen Standards zielt die Architektur der Schule darauf ab, ein Multiversum zu werden, in dem die vielschichtige Komplexität der Umgebung lesbar und erfahrbar wird. Sie funktioniert als eine Ansammlung verschiedener Klimazonen, Ökosysteme, architektonischer Traditionen und Vorschriften“, so der 53-Jährige. Parallel zu seinem Büro leitet er auch als Dekan die Columbia University Graduate School of Architecture, Planning and Preservation in New York. 2016 erhielt er den Friedrich Kiesler-Preis für seine Arbeit.
Ausweitung zum Park
Sechs Etagen ragt der Schulbau im Stadtteil Encinar de los Reyes in die Höhe. Im Erdgeschoss sind die Klassenräume für jüngere Schüler*innen untergebracht. Zugleich öffnet sich diese Ebene zum direkt angrenzenden Park Valdebebas. Flächen für den Sportunterricht wurden in die Grünanlage ausgedehnt, sodass die Schule selbst mit einer deutlich geringeren Grundfläche auskommt. Außerhalb der Unterrichtszeiten können die Sportanlagen von Anwohner*innen und Besucher*innen genutzt werden, sodass ein Mehrwert für alle entsteht.
Patio mit Aussicht
Im ersten Obergeschoss steht den Schüler*innen zusätzlich eine 460 Quadratmeter große Turnhalle zur Verfügung. Sie wurde als innere Piazza konzipiert, die teils von offenen Bögen eingefasst wird. Die Luft kann somit stets passieren, was für eine natürliche Abkühlung des schattigen Ortes sorgt. Parallel zum Sport wird dieser für Versammlungen und Veranstaltungen genutzt. Auch können die Schüler*innen hier ihre Pausen verbringen und dabei den Blick in die Landschaft genießen. Die Räume der Schulleitung sind ebenfalls auf diesem knapp acht Meter hohen Stockwerk platziert – nicht als hermetisch verschlossene, sondern von außen einsehbare Bereiche. So sollen neue Formen der Partizipation gefördert werden.
Urbanes Grün
In den darüber liegenden Etagen haben die Architekt*innen die Räumlichkeiten der Mittelstufe untergebracht. „Die Klassenzimmer für die älteren Schüler sind um den Innengarten herum angeordnet, wie in einem kleinen Dorf. Diese Verteilung der Nutzungen impliziert einen fortlaufenden Reifungsprozess, der sich in der wachsenden Fähigkeit der Schüler niederschlägt, das Ökosystem der Schule allein und mit Gleichaltrigen zu erforschen“, erklärt Andrés Jaque. Den Garten schützt ein Tonnengewölbe aus Glas. Regenwasser, das in großen Tanks gesammelt und aufbereitet wird, dient zur Bewässerung der Pflanzen.
Lebendige Hülle
Als Biotop sollen auch die Fassaden fungieren. Diese sind zu 80 Prozent mit einer Korkschicht verkleidet, die dem Haus seine markante gelbe Farbigkeit verleiht. Die 14,2 Zentimeter dicken Korkplatten sind eigens vom Office for Political Innovation für diesen Bau entwickelt worden. Sie dienen als wirkungsvolle thermische Isolierung, die den Energieverbrauch des Hauses um die Hälfte reduziert. „Darüber hinaus sind die unregelmäßigen Korkoberflächen so konzipiert, dass sich organisches Material an ihnen ansammeln kann. So wird die Gebäudehülle zum Lebensraum zahlreicher Formen von mikrobiologischen Pilzen, pflanzlichem und tierischem Leben“, betont Andrés Jaque. Die Schule gleicht einem komplexen Ökosystem, das sich von seiner Umgebung nicht isoliert, sondern auf vielfältige Weise mit ihr interagiert: Es ist eine perfekte Umgebung, um Schüler*innen auf das spätere Leben vorzubereiten.
FOTOGRAFIE José Hevia José Hevia
Projekt | Colegio Reggio |
Ort | Calle San Enrique de Ossó, 48. El Encinar de los Reyes, 28055 Madrid |
Fläche | 5.495 Quadratmeter |
Architektur | Andrés Jaque / Office for Political Innovation |
Architektur-Team | Roberto González García, Luis González Cabrera, Alberto Heras, Ismael Medina Manzano, Jesús Meseguer Cortés, Paola Pardo-Castillo, Rajvi Anandpara, Juan David Barreto, Inês Barros, Ludovica Battista, Shubhankar Bhajekar, Elise Durand, Drishti Gandhi, Maria Karagianni, Bansi Mehta, Alessandro Peja, Meeerati Rana, Mishti Shah, Saumil Shanghavi |
Bauingenieurwesen | Iago González Quelle, Víctor García Rabadán (Qube Ingeniería de Estructuras) |
Technische Dienstleistungen | Juan Antonio Posadas (JG Ingenieros) |
Projektmanagement | Ángel David Moreno Casero, Carlos Peñalver Álvarez, Almudena Antón Vélez |