Literarischer Pool
Water Drop Library von 3andwich Design im chinesischen Huizhou
Eine Bibliothek ist heute kein Selbstläufer mehr. Um Menschen wieder zum Lesen zu bringen, spielen räumliche Qualitäten eine Rolle. Wie ein Lese-Tempel zur Selfie-Bühne avanciert, ist im südchinesischen Huizhou zu bewundern. Die Besucher*innen können dort sogar übers Wasser gehen.
Die Kombination von Büchern und Nässe lässt zunächst nichts Gutes erahnen. Dass dem gewiss nicht so sein muss, zeigt ein ungewöhnliches Projekt in der südchinesischen Provinz Guangdong. Die Water Drop Library wurde vom Büro 3andwich Design aus Peking gestaltet. Der Großteil der Baumasse ist in den Ausläufer eines Bergmassivs integriert. Von außen sind lediglich zwei geometrische Baukörper sichtbar, die sich mit ihrer weißen Farbe von der umgebenden Vegetation absetzen: eine lange, gerade Wand, hinter der sich ein zentraler Korridor befindet, sowie eine runde, schüsselförmige Struktur, die mit Wasser gefüllt ist.
Schwebende Wasserfläche
Zum Schwimmen ist dieses Becken jedoch nicht geeignet. Direkt unterhalb der Wasserfläche haben die Architekt*innen den Lesesaal platziert, der sich mit bodentiefen Glaswänden zur Umgebung öffnet und so der Schüssel eine schwebende Wirkung verleiht. Die Bibliothek mutet wie ein Unterwasser-Bau an, thront zugleich aber über einer Bergwelt mit 270-Grad-Blick auf den Pazifischen Ozean. Die konstruktive Logik wird galant auf den Kopf gestellt. Die unterirdische Bauweise erlaubt eine Reduktion der Gebäudehöhe. So wird der Meerblick für die Bewohner*innen zweier 35-geschossiger Wohntürme nicht versperrt, die sich östlich und südöstlich an die Bibliothek anschließen.
Hybrid zweier Ikonen
Der Gründer von 3andwich Design, He Wei, wandelt dabei auf den Pfaden zweier Architektur-Größen. Denn wer an runde Häuser denkt, kommt an John Lautner und Oscar Niemeyer nicht vorbei. Ersterer hatte mit der Malin Residence (1960) ein achteckiges Ufo an einen Berghang mit Blick über Los Angeles platziert. Auf die Kraft des Kreises setzte auch Oscar Niemeyer mit dem 1991 fertiggestellten Museu de Arte Contemporânea de Niterói (MAC) im brasilianischen Niterói unweit von Rio de Janeiro: eine schalenartige Konstruktion mit 16 Metern Höhe und 50 Meter Durchmesser. In Huizhou hat He Wei beide Bautypen miteinander verschmolzen. Er füllte die Schale mit Wasser, platzierte sie an einem Hang – und verlieh der Typologie der Bibliothek damit eine überraschende, ein Stück weit absurde Facette. Doch genau die braucht es, um von der Generation Z wahrgenommen zu werden.
Informelle Haltungen
Die Besucher*innen betreten das Gebäude über einen Korridor unterhalb des Wasserbeckens. Der Lesebereich ist ganz in Weiß gehalten. Entlang der äußeren Glaswand reihen sich gepolsterte Sessel und Beistelltische, von denen man in die Landschaft blicken kann. Die Bücherregale sind ringförmig um einen zentralen, runden Saal angeordnet, der für Lesungen, Präsentationen und andere Veranstaltungen genutzt wird. Dabei ist die Konstruktion der Regale nicht streng vertikal angelegt. Stattdessen kragen sie oben und unten aus, sodass fließende Übergänge zur Decke und zum Boden entstehen. Die organische Raumordnung soll sich nicht nur auf das Gemüt positiv auswirken, sondern auch lässigere Positionen beim Lesen erlauben. Statt aufrecht am Tisch zu sitzen, können die Nutzer*innen auf den schwungvollen Podesten schon fast eine liegende Position einnehmen.
Duale Perspektive
An den Lesesaal schließt sich ein Teeraum an, der zum Alleinsein oder als intimer Ort für Gespräche genutzt werden kann. Ein flacher Holztisch wird von sechs runden Sitzkissen flankiert, die wie große Kieselsteine wirken. In diesem Raum sind mehrere Gesteinsbrocken platziert, die sich klar von den weißen Wänden und dem hellen Terrazzoboden abheben. In den rauen Felsoberflächen spiegelt sich die Materialität des Baugrunds. So entsteht eine doppelte Perspektive: Die Berge können sowohl durch den Blick hinaus ins Freie als auch durch die Felsen aus nächster Nähe erfahren werden. Makro- und Mikroansicht liegen direkt nebeneinander.
Übers Wasser laufen
Der Lesesaal wird von einer Wasserbar flankiert. Die Blicke wandern dort hinauf zu einem Oberlicht mit farbigen Glasscheiben. Die Sonnenstrahlen werden in polychromer Streuung ins Gebäude geleitet. Zugleich ist das Oberlicht auch von außen sichtbar. Als ein rund drei Meter hohes, weißes Volumen ragt es aus der Wasserfläche auf dem Dach heraus. Der Clou: Die Architekt*innen haben sieben große Stufen in das Becken eingelassen, die vom Wasser überflutet werden.Barfuß können die Besucher*innen so zum farbigen Oberlicht gelangen und einen Blick nach unten werfen. Beim Betreten der Stufen entsteht ein Effekt, als würde man auf dem Wasser laufen. Die flache Einfassung des Beckens sorgt dafür, dass Pool, Meer und Himmel optisch nahtlos ineinander übergehen. Damit prädestiniert sich der Außenraum der Bibliothek nicht nur als Kulisse für Instagram- und TikTok-Videos. Er bringt den Ort ins Gespräch – und verleitet hoffentlich viele Bewohner*innen von Huizhou, zum Lesen wieder ein Buch in die Hand zu nehmen.
FOTOGRAFIE Jin Weiqi
Jin Weiqi
Projekt | Water Drop Library |
Typologie | Bibliothek |
Ort | Shuangyue Bucht, Huizhou, Provinz Guangdong, China |
Architektur | 3andwich Design / He Wei Studio |
Interieur | 3andwich Design / He Wei Studio |
Entwurf | He Wei, Chen Long |
Entwurfsteam | Zhou Junjie, Wan Yuexiao, Liu Song, Sang Wanchen, Liu Yong, Zhu Yanming, Yan Ziming (intern) |
Größe | 450 Quadratmeter |
Grundstück | 3.500 Quadratmeter |
Fertigstellung | April 2022 |