Metaphysisches Wohnen
Turiner Apartment von Marcante-Testa als Hommage an Giorgio de Chirico

Wer an der Turiner Piazza San Carlo das von Andrea Marcante und Adelaide Testa renovierte Apartment betritt, findet sich in einem Gesamtkunstwerk wieder. Die 150 Quadratmeter große Wohnung ist eine subtil gestaltete Hommage an den italienischen Maler Giorgio de Chirico. Jeder Raum ist ein perfekt inszeniertes Ensemble, das kein Detail dem Zufall überlässt. Das auffälligste Gestaltungselement sind Wände aus Fraké-Holz, die mit der perspektivischen Wahrnehmung spielen.
Andrea Marcante und Adelaide Testa hatten bei der Planung das Zusammenspiel von Außen- und Innenraum im Sinn. Von der Turiner Piazza San Carlo aus gesehen, präsentiert sich das von ihnen renovierte Appartement im Mezzanin eines Prachtbaus aus dem 17. Jahrhundert durch ein segmentiertes Sichtbarmachen des offenen Wohnbereiches in einer nahezu bühnenhaften Inszenierung. Dem Betrachter wird durch die großen Rundbogenfenster ein Ausschnitt offenbart, der auf das Innenleben verweist, ohne es in seiner Ganzheit preiszugeben. Das Metaphysische, sagen die Architekten mit einem Verweis auf Giorgio de Chirico, sei eine Art von Wahrheit, die in allen Objekten verborgen ist, sobald wir sie außerhalb ihres gewohnten Kontextes sehen. In dem Fall des Turiner Appartements geschieht dies durch das Nachaußenkehren des Privaten zur Straße hin.
Der Raum als Piazza
Von Innen betrachtet, geben die Fensterbögen die Sicht frei auf die Weitläufigkeit des berühmtesten Platzes der piemontesischen Hauptstadt und scheinen so das Motiv der Raumgestaltung weiterzutragen. Die starke perspektivische Wahrnehmung wird dabei von grafischen Linien und eingezogenen Flächen mitgetragen, die den Raum in ein Spiel mit Licht zerfallen lassen und mit Kontrasten zusätzliches Raumvolumen zeichnen. Drei mit beigefarbenem Fraké-Holz verkleidete Hohlkörper stehen wie Monolithen im offenen Wohnbereich und verbergen je nach Blickwinkel die Bereiche mit Sitzecke, Esstisch und Küche. Mit ihren glatten Oberflächen erzeugen sie den Eindruck von Bauklötzen, die die Größenverhältnisse auflösen. Der Raum wird so selbst zu einer verkleinerten Piazza, in der, wie bei de Chirico, Gebäude die Sicht verstellen oder sich an anderer Stelle eine geradezu unendliche Weite öffnet, um den Blick an der Statue des Herzogs Emanuele Filiberto auf der Piazza San Carlo wieder aufzufangen.
Verborgenes als Schattenspiele
Bei näherer Betrachtung offenbaren die Monolithen ihre Funktionen. Sie bergen eine begehbare Garderobe, die durch ein rauchfarbenes Fenster ins Wohnzimmer blickt; ein kleines Studio mit einem Schreibtisch, das durch große weiße Glasscheiben mit natürlichem Licht versorgt wird; außerdem einen Vorratsschrank in der mit weiß lackierten Oberschränken und Unterschränken aus Edelstahl ausgestatteten Küche. Im Elternschlafzimmer, den beiden Kinderzimmern sowie den drei Bädern, die – bis auf ein Kinderzimmer – im hinteren Teil des Appartements untergebracht wurden, versuchten die Architekten, das Spiel mit den Fluchtpunkten, so weit es möglich war, fortzuführen. Das zeigt sich insbesondere beim elterlichen Schlafzimmer und seinem ihm gegenüberliegenden Bad. Es befindet sich ebenfalls in einem aus Fraké-Holz gebauten Hohlkörper, der ein großes opakes Fenster fasst, das dahinter Verborgenes als Schattenspiel in beide Richtungen wiedergibt.
Italianità
Neben dem Fraké-Holz brachten Andrea Marcante und Adelaide Testa verschiedene, ziemlich unterschiedliche Materialen in den Entwurf ein. Dunkel gebeizte Holzdielen finden sich in allen Räumen. Marmor wurde für größere Details verwendet, schwarzer Marquina im Wohnbereich und weißer Carrara im elterlichen Badezimmer. Die Farben bleiben durchweg dezent: gebrochenes Weiß und ein helles Grau für Wände und Decken; Weiß, Schwarz und Grau für Einbau- und Designermöbel sowie Vintagestücke, denen wenige Farbkontraste in Orange, Gelb oder Blau entgegengesetzt werden. Es sind Materialkombinationen und Details, wie man sie im Grunde nur von den Italienern kennt: dezent, doch eigenwillig, fast ein wenig postmodern. Sie gehen einher mit der Absicht der Architekten, eine Abfolge zu schaffen, in der sämtliche Elemente als Fragmente einer Erzählung, die das Mysteriöse im Profanen sucht, ihren Platz finden. In seinen Bildern inszenierte de Chirico oft die Leere im Alltäglichen. Hier geht es darum, die Leere im Alltag zu bewohnen.
FOTOGRAFIE Carola Ripamonti
Carola Ripamonti
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