Moderner Ruinenzauber
Auf den Spuren einer skandinavisch-venezianischen Architekturikone in São Paulo

Die brasilianische Moderne hat der europäischen einen entscheidenden Punkt voraus: Sie wirkt stets tänzelnd leicht. Dass jedoch nicht nur die Kurvenwunder von Oscar Niemeyer für heutige Projekte Pate stehen müssen, zeigt ein luftig leichter Wohnbau am Stadtrand von São Paulo. Otto Felix heißt der Architekt, der mit der Casa das Sibipirunas einen skandinavisch-venezianischen Transfer vollzieht.
Häufigen Besuchern der Kunst- und Architektur-Biennalen in Venedig hat sich eine Ikone ins Gedächtnis eingebrannt: Der 1962 inmitten der Giardini erbaute Nordische Pavillon des norwegischen Architekten Sverre Fehn. Ein großzügiger Open Space von kubischem Grundriss, der sich an zwei Seiten durch bodentiefe Schiebefenster zum Außenraum öffnet. Der Clou ist jedoch die Decke: eine parallele Abfolge filigraner Betonbügel, die sich auf zwei Höhenebenen im rechten Winkel überkreuzen. Beide Ebenen überspannen die gesamte Länge und Breite des Innenraums und erfüllen ihn mit atmosphärischer Weite.
Atmosphärische Weite
Oberhalb dieses Gitterwerks sind transluzente Glasscheiben platziert, die das Tageslicht diffus brechen und den gesamten Innenraum in ein geheimnisvolles Leuchten versetzen. Die Leichtigkeit der Konstruktion erlaubt eine charmante Brechung: Drei Bäume, die vor dem Bau des Pavillons auf dem Grundstück vorgefunden wurden, bahnen sich ihren Weg durch die Decke hindurch ins Freie. Der Abstand der Betonbügel wurde genau so bemessen, dass die mächtigen Gewächse locker durch sie hindurch passen. Eine Architektur ohne klar erkennbare Grenzen, im Einklang mit dem Grund, auf dem sie errichtet wurde.
Genau diesen Effekt hat sich der brasilianische Architekt Otto Felix zunutze gemacht. Er überspannt die 250 Quadratmeter große Casa das Sibipirunas mit gipsverputzten Metallträgern und langen Oberlichter-Bändern. Durch den Einsatz transparenter Glasscheiben vermag das Sonnenlicht hindurch zu scheinen, sodass das Gitterwerk der Decke ein wechselndes Licht- und Schattenspiel auf dem Boden entfacht. Um den Effekt zu steigern, sind auch die Außenwände des Hauses als lockeres Stabwerk ausgeführt. Nicht nur Innen- und Außenraum werden damit in einem beständigen Dialog versetzt, sondern ebenso Architektur und Natur.
Beständiger Blickkontakt
Der Blickfang sind zwei große Bäume, die den Boden in quadratischen Aussparungen durchbrechen und sich ihren Weg durch die Decke hinaus ins Freie bahnen. Wie eine Umkehrung des Baum-Motivs wirkt ein schwarzer Kamin, der ebenfalls die Decke durchbricht, ohne jedoch den Boden zu berühren. Der Innenraum teilt sich in ein großzügiges Wohnzimmer mit Küche sowie ein Schlafzimmer mit integriertem Kleiderschrank. Gläserne Innenwände und Türen sorgen dafür, dass die beiden Bereiche des Hauses in dauerhaftem Blickkontakt zueinander stehen und die Architektur stets als Ganzes wahrgenommen wird.
Die Möblierung orientiert sich an der brasilianischen Moderne der Vierziger- und Fünfzigerjahre. Stühle, Sessel und Tische werden von filigranen Füßen getragen, die mit dem durchlässigen Gitterwerk der Wände und Decke korrespondieren. Einen Bezug zur lokalen Bautradition hat Otto Felix am Boden eingeflochten: Dieser ist mit unregelmäßig versetzten Travertinplatten ausgelegt. Als Vorbild dienen die roten Keramikziegel, die typisch für die Wohnhäuser der vergangenen Jahrhundertmitte in São Paulo sind.
Geist der Ruine
Travertinplatten bedecken auch die Küche, die ganz bewusst nicht als strenger Kubus ausgeführt wurde. Sie ragt wie das Fragment einer Ruine aus dem Boden empor und konterkariert mit ihrer rauen, unregelmäßigen Gestalt das parallele Gitterwerk der Decke und Wände. Auch das Bad folgt dieser Logik. Dusche und Waschbecken sind inmitten dreier Wände platziert, die den Eindruck erwecken, als wären riesige Steinscherben in den Boden gerammt worden. Dahinter ist ein runder Spiegel platziert, der die gesamte Szenerie in eine stilisierte Berglandschaft mit Sonnenuntergang verwandelt. Die Casa das Sibipirunas ist damit nicht nur eine Hommage an Sverre Fehn. Sie webt zugleich den romantischen, naturverbundenen Geist der Ruinenarchitektur des 19. Jahrhunderts mit ein – kombiniert mit einem tänzelnd leichten Ausflug in die Postmoderne.
FOTOGRAFIE Denilson Machado – MCA Estúdio
Denilson Machado – MCA Estúdio
Projektarchitekt
www.ottofelix.com.brSão Paulo Special
www.dear-magazin.deMehr Projekte
Aus Werkstatt wird Wohnraum
Umbau im griechischen Ermionida von Naki Atelier

Londoner in der Lombardei
Tuckey Design Studio verwandelt ein Wohnhaus am Comer See

Zwischen Stroh und Stadt
Nachhaltiges Wohn- und Atelierhaus Karper in Brüssel von Hé! Architectuur

Flexibel zoniert
Apartment I in São Paulo von Luiz Solano

Freiraum statt Festung
Familienhaus mit Innenhof in Bangalore von Palinda Kannangara

Kork über Kopf
Umbau eines Penthouse mit Korkdecke von SIGLA Studio in Barcelona

Drei Pavillons für ein Familiendomizil
Australisches Wohnhaus von Pandolfini Architects und Lisa Buxton

Ein Haus der Gegensätze
Kontrastreicher Neubau nahe Barcelona von Ágora

Die Magie der Entgrenzung
Luftiger Neubau Casa Tres Patis von Two Bo in Spanien

Raumsequenzen in der Grotte
Casa Gruta in Mexiko von Salvador Román Hernández und Adela Mortéra Villarreal

Altes Haus im neuen Licht
Familienwohnung von Jan Lefevere in Kortrijk

Mehr Platz fürs Wesentliche
Umbau eines Backstein-Cottage in London von ROAR Architects

Raum-Chamäleon
Flexibel nutzbarer Anbau in Brisbane von Lineburg Wang

Wohnräume mit Tiefgang
Innenausbau einer Villa am Rhein vom Düsseldorfer Studio Konture

Holz und Stein im alpinen Dialog
Apartmenthaus Vera von atelier oï und CAS Architektur in Andermatt

Haus mit zwei Gesichtern
Umbau eines Reihenhauses in Lissabon von Atelier José Andrade Rocha

Umbau am offenen Herzen
Ply Architecture transformierte einen Sechzigerjahre-Bungalow in Australien

Reise in die Vergangenheit
Studio Hagen Hall gestaltet ein Londoner Reihenhaus im Mid-Century-Stil

Downsizing als Designprinzip
Kompaktes Wohnhaus in Portugal von Atelier Local

Der Reiz der Reduktion
Innenarchitekt Ilkka Palinperä gestaltet ein Wohnhaus bei Helsinki

Authentische Askese
Apartment-Rückbau in Paris von Atelier Apara

Umbau im Anbau
Gianni Botsford erweitert Fosters Londoner Frühwerk

Visionen vom Wohnen
Design-Apartments auf der MDW 2025

Mit Ecken und Kurven
Umbau eines Reihenhauses in London von Pensaer

Raw in Rio
Von Säulen geprägter Wohnungsumbau von Estudio Nama

Nostalgie nach Mass
Belgravia Townhouse von Child Studio

Grobe Perfektion
Symbiose aus Beton und Holz in einem Apartment in Tokio von Kenta Hirayama

Appetitliches Apartment
Wohnungsumbau von Iva Hájková Studio in Prag

Raumwunder in Porto
Umbau eines portugiesischen Mini-Häuschens von Spaceworkers

Hygge auf Tschechisch
Umbau des Cottage Two Sisters von Denisa Strmiskova Studio im Isergebirge
