Nuancen der Durchlässigkeit
Die Boutique des jungen Modelabels Geijoeng in Shenzhen
Der Boutique eines jungen, chinesischen Modelabels gelingt das Kunststück, selbst inmitten eines anonymen Einkaufszentrums einen Ort mit Seele und Atmosphäre zu schaffen. Durch ein Wechselspiel aus Transparenz und Transluzenz werden die Raumgrenzen belebt – und die Gesetze der Schwerkraft scheinbar ausgehebelt.
In Zeiten von E-Commerce haben physische Verkaufsräume keineswegs ausgedient. Sie präzisieren lediglich ihre Rolle. Ware wird nicht einfach nur gezeigt, sondern bedacht in Szene gesetzt. Die Haltung einer Marke muss im Interieur ablesbar sein und sich in einem räumlichen Gesamterlebnis manifestieren. Ganz in diesem Sinne gingen Studio 10 ans Werk, die die Boutique des jungen Modelabels Geijoeng in Shenzhen realisiert haben.
Das Designbüro wurde 2017 von der chinesischen Architektin Shi Zhou in der 12,5-Millionen-Metropole gegründet. Zuvor hatte sie für mehrere Jahre im New Yorker und Hongkonger Büro von Kohn Pedersen Fox Associates gearbeitet und Großprojekte vom Wolkenkratzer bis hin zum Städtebau geplant. Den kleinen Maßstab hat sie dennoch nicht aus den Augen verloren, wie das Geijoeng-Geschäft im Einkaufszentrum Coastal City beweist.
Flirrender Terrazzo
Die Schnitte der chinesischen Damenmode-Marke mögen minimalistisch sein, doch Stoffe aus Seide, Wolle, Kaschmir und Samt ergänzen diese um sinnliche Facetten – die auch im Interieur aufgegriffen werden. Gleich beim Betreten der Boutique fällt der ungewöhnliche Terrazzo-Boden ins Auge, der sich deutlich von seinen venezianischen Vorbildern unterscheidet. In eine graugrüne Füllmasse sind großformatige weiße und dunkelgrüne Marmorstücke eingelassen. Ihre Position und Ausrichtung ist ebenso zufällig wie die äußeren Bruchkanten. Das Muster lässt an Eiscreme oder wilde Dekore aus der Memphis-Zeit denken. Es entfacht einen dynamisch-flirrenden Effekt, der neugierig macht und zum Erkunden des 120 Quadratmeter großen Verkaufsraum animiert.
Kokette Zerbrechlichkeit
Auf dem Terrazzo-Boden sind kubische Sockel aus grünem Marmor platziert, die in Höhe und Breite variieren und zum Teil zur Präsentation von Accessoires und Kleidungsstücken dienen. Ihre Hauptrolle ist jedoch eine andere: Aus den Blöcken ragen transluzente Acryl-Stangen in die Höhe, die mithilfe von metallenen Schellen aus dem Gerüstbau mit waagerechten Kleiderstangen verbunden sind. Auch sie sind aus milchig-durchscheinendem Kunststoff gefertigt. Die Konstruktion scheint die Gesetze der Statik außer Kraft zu setzen: Die tragenden Elemente wirken nicht massiv und schwer, sondern kokettieren aufgrund ihrer diffusen Lichtdurchlässigkeit mit der Zerbrechlichkeit von Glas.
Modisches Spiegelkabinett
Die Umkleidekabinen sind ebenfalls von Röhren aus Acryl umschlossen, die dicht an dicht zu einem Kreis angeordnet sind. Die Oberflächen sind diesmal transparent – und nicht wie bei den Kleiderstangen zuvor als Sonderanfertigung mattiert worden. Im Inneren der Kabine kann ein hellgrüner Vorhang aus der Raf-Simons-Kollektion von Kvadrat zugezogen werden, um Privatsphäre zu garantieren. Wird der Vorhang geöffnet, können die Blicke durch die Kabine hindurch wandern. Dabei werden sie jedoch durch die Rundungen der Kunststoff-Stäbe verzerrt – womit Erlebnisse eines Spiegelkabinetts in die Einkaufswelt mit eingebettet werden.
Diffuses Leuchten
Die Kombination aus transparenten und transluzenten Materialien setzt sich in der gesamten Boutique fort. Studio 10 bringen eine Vielzahl an Materialien zum Einsatz, die das Licht brechen, spiegeln oder in unterschiedlicher Intensität durchscheinen lassen. Der Eingangsbereich sowie das Schaufenster-Display sind aus Glasbausteinen gearbeitet. Entlang der Seitenwände des Verkaufsraums wurden durchsichtige Profilbauglas-Paneele eingebaut, die rückseitig matt silbern beschichtet sind. Auf ihnen brechen und reflektieren sich zart die Grüntöne im Raum sowie das Licht der frei unterhalb der Decke hängenden LED-Leisten. Das Ergebnis ist ein diffuses Leuchten der Raumbegrenzungen, das die Kleidungsstücke wie auf einer Bühne in Szene setzt. Wer an dieser Stelle lieber online shoppt, ist selber schuld.
FOTOGRAFIE Chao Zhang
Chao Zhang