Polarisierende Zwiebeldächer in Paris
Moskauer Prestige an der Seine: das russisch-orthodoxe Kulturzentrum von Wilmotte & Associés.

Geld, Macht, Religion und politische Intrigen – ein von der russischen Regierung in Auftrag gegebener Neubau mitten in Paris sorgte schon in seiner Planungsphase für viel Aufregung. Nun wird endlich auch seiner exotischen Architektur Aufmerksamkeit geschenkt, die seit ein paar Monaten das Stadtbild der französischen Hauptstadt bereichert.
Um frisches Geld in die leere Staatskasse zu spülen, wurde die französische Wetterbehörde Météo France aus dem Herzen der Stadt in die Banlieue verlegt und das nunmehr unbebaute Grundstück 2010 zum Verkauf ausgeschrieben. Für das 8.000 Quadratmeter große Terrain gab es etliche Interessenten, liegt es doch in Bestlage direkt am Quai Branly und zwischen vielen touristischen Hotspots wie dem Eiffelturm, Invalidendom und Grand Palais. Den Zuschlag bekam Russland – angeblich wegen des guten Drahtes von Wladimir Putin zu dem damaligen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy.
Teures Prestigeobjekt und jahrelange Startschwierigkeiten
Schlappe 70 Millionen Euro ließ sich Moskau allein das Gelände kosten, zu denen sich weitere 100 Millionen für den Bau eines russisch-orthodoxen Zentrums addierten. Konstruieren sollte es der russische Architekt Manuel Núñez Yanowsky, der eine Kathedrale mit einem „gläsernen Mantel der Mutter Gottes“ bedecken wollte. Allerdings stieß sein Entwurf auf vehementen Widerstand des damaligen Pariser Bürgermeisters Bertrand Delanoë, der „die geplante Zurschaustellung der Religiosität an einem Ort, der zum Weltkulturerbe der Unesco zählt, völlig unangemessen fand.“ Erst als Russland nach drei Jahren einem Architektenwechsel zustimmte, erteilte Delanoë die offizielle Baugenehmigung.
Neues Team, neues Glück
Das Projekt wurde daraufhin dem angesehenen Pariser Architekten und Stadtplaner Jean-Michel Wilmotte anvertraut, für den die architektonische Herausforderung jedoch gleichermaßen paradox war: Das prestigeträchtige Kulturzentrum und seine Kathedrale sollten mit den denkmalgeschützten Gebäuden in ihrer unmittelbarer Umgebung harmonisieren und gleichzeitig die russisch-orthodoxe Tradition in moderner Weise widerspiegeln. Erschwerend kam hinzu, dass dieses Vorhaben auf einem langen und sehr schmalgeschnittenen Grundstück untergebracht werden musste. Das Architekturbüro Wilmotte & Associés plante aus diesem Grund den Bau von insgesamt vier Gebäuden: Neben der Kathedrale wurden auch eine russisch-französische Grundschule, ein Konferenzzentrum sowie Räume für die Kulturabteilung der russischen Botschaft gebaut.
Pariser Identität und subtile Dynamik
Anlehnend an die typisch begrünten Hinterhöfe und großzügigen Alleen des vornehmen 7. Arrondissements bepflanzte Wilmotte die Dächer der einzelnen Gebäude und verband sie auf dem Boden mit kleinen Alleen. Für ihre Fassaden wählte er den edlen Sandstein aus Massangis, einer Gemeinde im Burgund, der auch schon für das Stadtbild so prägende Bauten wie die Brücke Pont d’Iéna, das Museum der Modernen Künste und den Trocadéro verwendet wurden. Insgesamt 12.000 Module wurden für das russische Großprojekt aufeinander geschachtelt, die durch ihre unterschiedlichen Musterungen den jeweiligen Fassaden eine gewisse Dynamik sowie subtile Nuancen verleihen. So erscheinen die Module von weitem wie schmale Querstreifen auf den Wänden und in den Linienmustern bricht sich das Licht, so dass die Mauern zu vibrieren scheinen.
Religiöser Eyecatcher
Der absolute Hingucker der Gesamtkonstruktion ist jedoch die russisch-orthodoxe Kathedrale, die auf Wunsch der russischen Regierung zwar modern, aber auch nach den strengen kanonischen Traditionen und Prinzipien der Orthodoxie konstruiert werden sollte. Wie bei den meisten kirchlichen Institutionen in der russisch-orthodoxen Architektur entschied sich auch Wilmotte für die Präsenz von fünf traditionellen Kirchendächern in sogenannter Zwiebelform, die den Erlöser Christi und die vier Evangelisten Markus, Matthäus, Lukas und Johannes symbolisieren. Weniger traditionskonform zeigte sich der Franzose dagegen bei der Materialauswahl und ihrer Herstellung. Während sie üblicherweise aus Holz oder Metallkonstruktionen bestehen und mit vergoldetem Kupferblech, Schiefer- oder Keramikplatten bedeckt werden, bestand Jean-Michel Wilmotte bei seiner Konstruktion auf eine absolut glatte Oberfläche.
Revolutionäre Zwiebeltechnik
Dazu bediente sich der Franzose einer Technik, die bis dato nur in der Schiffs- und Luftfahrt angewandt wurde und ließ die fünf Kirchturmdächer aus zahlreichen Schichten herstellen, die sich aus Glasfasern, thermoplastischem Schaum und Kunstharz zusammensetzen. Fast genauso aufwendig war auch das Auftragen der äußersten Zwiebelschicht: Drei Monate lang wurden insgesamt 90.000 acht mal acht Zentimeter kleine Plättchen aus Gold und Palladium auf die Turmdächer geklebt.
Polarisierende Polemik
Trotz dieser kontemporären Note erinnert die bauliche Gesamterscheinung jedoch unweigerlich an den Moskauer Kreml. Entsprechend unterschiedlich fallen auch die Meinungen über das architektonische Werk von Wilmotte & Associés aus. Während die einen dankbar für frischen Wind am denkmalgeschützten und vorwiegend homogen gestalteten Seine-Ufer sind, ärgern sich die anderen über die neue Perspektive auf den Eiffelturm, an den sich nun, sehr bedeutungsschwanger, ein Machtsymbol der russischen Staatsgewalt zu kuscheln scheint. Einig sein werden sich Befürworter wie Gegner jedoch zumindest in einem Punkt: Es ist unmöglich, dieses auffällige Projektes zu übersehen.
FOTOGRAFIE Alessandra Chemollo / Wilmotte & Associés Architectes
Alessandra Chemollo / Wilmotte & Associés Architectes
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