Räumliche Verflechtungen
Das Familienunternehmen Nya Nordiska im niedersächsischen Dannenberg macht alles etwas anders: Mitten im Kalten Krieg zieht es ins „Zonenrandgebiet“; während andere auf der „Grünen Wiese“ expandieren, investiert es in eine innerstädtische Unternehmensstruktur, und in der Blütezeit der Globalisierung baut es seinen deutschen Standort aus. Doch der Erfolg gibt dem Textilverlag, in dem Stoffe für den Innenraum entworfen und vertrieben werden, recht: In nur einer Generation wuchs das Unternehmen auf eine Größe von rund 120 Mitarbeitern an. In Dannenberg wurde der Standort nun zum dritten Mal erweitert: Im Rahmen eines geladenen Wettbewerbs entschied man sich für die Realisierung eines Entwurfs von Volker Staab aus Berlin. Nach nur zehn Monaten Bauzeit war er fertig. Wir haben uns den Neubau angeschaut.
Das beschauliche Fachwerkstädtchen Dannenberg im Wendland kennt man – wenn überhaupt – aus der Tagespresse im Zusammenhang mit den Protesten gegen die Atommüll-Endlagerung in Gorleben. Westberliner schätzten die Gegend, weil sie zu DDR-Zeiten das nächstgelegene Erholungsgebiet hinter der Grenze war. Intakte Rundlingsdörfer, liebevoll sanierte Fachwerkhäuser, lichte Alleen und weite Felder vermitteln auch heute noch das Gefühl, als sei hier die Zeit stehen geblieben. Doch Dannenberg ist anscheinend auch ein logistisch interessanter Unternehmensstandort. Der Textilverlag Nya Nordiska, 1967 in Düsseldorf gegründet, zog bereits Mitte der siebziger Jahre hierher, um vom Wendland aus seine Stoffe in die ganze Welt zu verschicken. In den neunziger Jahren musste man bereits anbauen. Nun ist im Jahr 2010 eine neue Erweiterung hinzugekommen: Die Eingriffe von Staab Architekten sind einerseits hochmodern – und fügen sich dennoch angenehm unaufgeregt in das urbane Gewebe der Fachwerkstadt ein.
Innen groß, außen klein
Ein Mythos der Globalisierung ist ja, dass hierzulande nur noch entworfen würde und die Datei dann nach Fernost zur Produktion geschickt werde. Was beim Buchdruck noch funktionieren mag – bei einem so komplexen Geschäft wie der Stoffherstellung und -gestaltung gibt es zu viele Parameter, die zu beachten sind, als dass ein so verkürzter Prozess reichen würde. Gerade ein Unternehmen mit dem Ruf, auch noch nach Jahrzehnten exakt den gleichen Sofabezug oder Vorhangstoff nachliefern zu können wie zu Zeiten seiner Marktpremiere, muss die Produktionsbedingungen vor Ort wenigstens simulieren können. Dafür gibt es bei Nya Nordiska eine Musterproduktion sowie einen -zuschnitt – und riesige Lager. Was das für das Raumprogramm heißt, ist klar: ganz viel Platzbedarf. Diesen aber innerhalb einer kleinteiligen, gewachsenen Bebauungsstruktur wie der historischen Altstadt Dannenbergs zu realisieren, kommt der Quadratur des Kreises gleich.
Räumliches Patchwork
Staab Architekten hielten sich in der Maßstäblichkeit ihres Eingriffs ganz an die Dimensionen des Standorts, mit den Fassaden aus rot eloxiertem Metall wählten sie jedoch ein Material, das hier traditionell nicht vorkommt und den Neubau unmissverständlich in der Gegenwart positioniert. Sechs unterschiedlich große Neubauten haben sie dem bestehenden Ensemble aus altem Fachwerkhaus, Achtziger-Jahre-Musterhalle sowie Büro- und Präsentationsgebäude von 1997 hinzugefügt. Dabei bestehen die neuen Bauteile jedoch nicht nur aus kompletten Neubauten, vielmehr wurden auch alte Gebäude in die Umstrukturierung einbezogen. So findet man hinter der Fassade eines alten Fachwerkhauses an der Marschtorstraße im Obergeschoss unerwartet eine große Halle für die Konfektionsabteilung. Dass hier etwas neu ist, soll jedoch nicht komplett versteckt werden. Selbstbewusst ersetzen auf der Straßenebene große Schaukästen mit Rahmen aus dem gleichen rot eloxierten Aluminium wie bei der Fassade die ehemaligen Fenster – und weisen so auf die neue Nutzung als Musternäherei hin.
Die Idee des Patchworks aus alten und neuen Gebäuden setzt sich in der Schaffung von Freiräumen und Blickachsen fort. So springen die Neubauten immer wieder von der Bebauungskante zurück, lassen Luft neben einem Altbau, minimieren so die Massivität des Eingriffs oder schaffen gar einen kleinen Vorplatz an der Marschtorstraße vor dem Eingang zum Showroom. Von der Straße aus kann man sogar bis zum zentralen Innenhof der Anlage hindurchblicken.
Skulpturale Dachlandschaft
Ein weiterer „Trick“, um die großen, hohen Hallen in das alte Quartier zu integrieren, war die Nutzung des vorhandenen Gefälles zwischen Straßenebene und rückwärtigem Eingangsbereich: Hinten liegt die Erdgeschossebene gut einen Meter tiefer als vorne zur Marschtorstraße hin, so dass die Bauhöhe der rückwärtig orientierten Produktionshalle gar nicht auffällt. Ihr großes Volumen wird zur Marschtorstraße hin zusätzlich durch einen kleinen Showroom kaschiert. Besonderen Wert wurde auch auf die Gestaltung der Dächer gelegt: Hier experimentierten die Architekten bewusst mit unterschiedlichen Formen – vom Sattel- bis zum Sheddach wurde das Prinzip des geneigten Dachs bis zur skulpturalen Überformung ausgereizt – die so entstandene, heterogene Silhouette des Ensembles interpretiert die gewachsene Dachlandschaft Dannenbergs neu.
Drinnen draußen
Die Verschränkung von Lufträumen und geschlossenen Volumen setzt sich innerhalb des Geländes fort: Zentraler Freiraum ist der begrünte Innenhof, der an zwei Seiten vom alten Fachwerkbau, an den beiden weiteren Seiten vom aktuellen Neubau begrenzt wird. Zwei Blickachsen – zur Anlieferung über die Ratswiese und zur Marschtorstraße hin – beugen klaustrophobischen Gefühlen vor und schaffen eine Verbindung zur Stadt. Die Innenräume der Neubauten orientieren sich über lange Fensterbänder entweder zur Straße oder zum Hof hin, großformatige Öffnungen rahmen gezielte Ausblicke in die Stadtlandschaft. Und wer sich draußen zurückziehen möchte, findet auf einer neuen Dachterrasse und in einem kleinen Frühstückshof geschützte Aufenthaltsräume im Freien.
Kunst im Detail
Die Farbgebung im Inneren ist reduziert: Weiße Wände kontrastieren einen fast schwarzen, mit Polyurethan beschichteten Boden, der leicht schalldämpfend wirkt. Bei den Fensteröffnungen wechseln sich die großen, nach außen gestülpten Fenster mit den nach innen gesetzten Fensterbändern ab. Und selbst lange Flure werden mit einfachen Mitteln spannungsvoll inszeniert: Lichtbänder an den Deckenrändern betonen die Zickzacklinien des skulpturalen Dachverlaufs, eine Eckverglasung gewährt einen Durchblick diagonal durch das ganze Haus.
Nordlicht trifft Farbe
Die Belichtung der Arbeits-, Werk- und Lagerräume spielt nicht nur im Hinblick auf die Lichtempfindlichkeit der Stoffe eine große Rolle, auch zur Beurteilung der Farbwirkung von Entwürfen, Mustern und fertigen Dessins ist es wichtig, eine möglichst konstante, natürliche Lichtatmosphäre bereitzustellen. Der neue große Raum für die Designabteilung ist daher durchgängig mit einem nach Norden orientierten Oberlichtband ausgestattet, das gleichmäßiges, nahezu schattenfreies Zenitlicht spendet. Das dafür gefaltete Dach schafft in dem langen Raum zudem zwei unterschiedlich charakterisierte Arbeitsbereiche: einen niedrigen mit Ausblick durch ein langes Fensterband zum Hof, in dem die Arbeitstische zu Zeichnen aufgestellt werden können, und einen hohen, offenen Raum für die direkte Arbeit an und mit den Stoffen.
Gleichzeitig ist die Produktentwicklung auch räumlich das „Herz“ der Anlage. Von hier aus erreicht man über kurze Wege die Arbeitsbereiche der Verwaltung und Technik sowie die große Halle für den Tuchzuschnitt beziehungsweise die Konfektion hinter der Fachwerkfassade. An diesen angrenzend ist das Büro der Verkaufsleitung untergebracht. Die fast auf Fußbodenhöhe verlaufenden Brüstungen der Fenster hier sind der Altbaufassade geschuldet, die sich im Innenraum reduziert abbildet und den Raum wie ein eigenes, ausgehöhltes Häuschen mit Satteldach wirken lässt. So trifft man bei der Bewegung durch die Anlage auf ganz unterschiedliche Raumtypen: Von der großen Produktionshalle über das lichte Studio bis zum geschützten Kleinraumbüro gibt es hier eine Fülle unterschiedlicher Arbeits- und Aufenthaltssituationen – ein bisschen wie in einer gewachsenen Stadt.
FOTOGRAFIE Marcus Ebener
Marcus Ebener