Raumschiff, generalüberholt
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Ein Schlüsselwerk des Neuen Bauens ist nach zweijähriger Restaurierung wiederhergestellt: die Villa Tugendhat in Brünn. Entworfen von Ludwig Mies van der Rohe Ende der zwanziger Jahre, steht die moderne Interpretation eines großbürgerlichen Hauses für die enge Verzahnung von Innen und Außen, einen fließenden Grundriss, den Gleichklang von Architektur und Interiordesign sowie eine technisch avancierte Ausstattung.
Diese Ikone der Architekturgeschichte wurde so umfassend restauriert, dass Architektur, Garten, Interiordesign und Möblierung wieder im Einklang sind. Das war nicht immer so, denn die Villa diente nach der Flucht der Eigentümerfamilie vor den Nationalsozialisten 1938 als Tanzschule, Krankenhaus und Unterkunft für KPD-Funktionäre. Während die Bausubstanz unter dieser Fremdnutzung stark litt, wurde das ebenfalls von Mies van der Rohe und seinen Mitarbeitern Lilly Reich, Hermann John Hagemann und Sergius Ruegenberg entworfene Interiordesign nahezu vollständig zerstört. Dass Architektur und Innenräume nun wieder in altem Glanz erstrahlen, ist einer sieben Millionen Euro teuren Restaurierung zu verdanken, die geleitet wurde von einer hochkarätig besetzten Expertenkommission unter Vorsitz des Restaurators Ivo Hammer und der Kunsthistorikerin Daniela Hammer-Tugendhat, der jüngsten Tochter der ehemaligen Besitzerfamilie.
Mies und sonst keiner
Ihre Eltern Grete und Ernst Tugendhat gehörten der Brünner Oberschicht an. Grete hatte das Grundstück in bevorzugter Brünner Lage im Stadtteil Černá Pole von ihrem Vater, dem Tuchfabrikanten Alfred Löw-Beer zur Hochzeit geschenkt bekommen. Die Stadt Brünn in Südmähren war in den zwanziger und dreißiger Jahren Zentrum der funktionalistischen Architektur in der Tschechoslowakei. Als Architekten für ihr Haus wünschte sich Grete Tugendhat Ludwig Mies van der Rohe. Den hatte sie bei einem ihrer Besuche beim Sammler und Kunsthistoriker Eduard Fuchs in Berlin kennenglernt, der mit Haus Perls in Berlin ebenfalls einen Bau von Mies bewohnte. Etwas Ähnliches schwebte Grete vor: „Ich habe mir immer ein geräumiges, modernes Haus mit klaren, einfachen Formen gewünscht.“ Zusammen mit Mies reiste sie durch Deutschland, um einige seiner Bauten zu besichtigen. Die Idee, in Anlehnung an Haus Wolf in Guben auch das eigene Haus als Klinkerbau zu errichten, wurde schnell verworfen. Stattdessen entschied man sich beim Tugendhat-Haus für eine Stahlbeton-Konstruktion, die auf 29 Stahlstützen ruht.
Die freistehende Villa liegt an einem steilen Hang und ist nach Süden ausgerichtet, so dass sie selbst im Winter lichtdurchflutet ist. Nähert man sich dem Flachdach-Gebäude von der Straßenseite, sieht man zuerst den großen Vorplatz und rechterhand die Wohnung des Chauffeurs samt Autogarage. Das eigentliche Wohnhaus erstreckt sich links davon. Die drei Geschosse sind als Ganzes wegen der Hanglange nur von der Gartenseite sichtbar. Während sich die Technikräume im Keller befinden, sind im darüber liegenden Geschoss Wohnzimmer, Küche und Esszimmer, Bibliothek, Musikzimmer und Arbeitsplatz untergebracht. Betreten wird das 907 Quadratmeter große Haus über einen mit Travertin ausgelegten Vorraum samt geschwungener Milchglaswand.
Privat: Schlafzimmer und Bäder
Hinter dem Eingangsflur schließen sich die Schlafräume des Ehepaars, seiner Kinder und ihrer Gouvernante an. Ergänzt werden sie um große und für ihre Entstehungszeit technisch avancierte Sanitärbereiche. Während die Kinder- und das Mädchenzimmer mit Nischen für Waschbecken, Spiegel, Glasablage und Beleuchtung versehen sind, beeindrucken vor allem die zwei komplett ausgestatteten Badezimmer durch ihre Ausstattung. Das der Kinder und Gouvernante ist weiß gefliest und mit weißer Sanitärkeramik versehen – einschließlich Badewanne, Waschbecken, Toilette und an der Wand montierten Accessoires wie Zahnputzbecher und Seifenschale. Diese Elemente tauchen auch im Elternbadezimmer auf, das zwischen dem Zimmer des Herrn und dem Zimmer der Dame angeordnet ist. Avantgardistisch ist nicht nur das zweigeteilte Waschbecken, das Bidet, die Leuchten und der weiße, wandhängende Schrank mit Schiebetür. Überraschend ist insbesondere der Lichteinfall, der durch ein über das Dach gehobenes „Laternenfenster“ ermöglicht wird. Zerstört während der achtziger Jahre, wurden die Bäder im Zuge der Restaurierung nach Originalvorlagen komplett wiederhergestellt.
Öffentlich: Wohn- und Esszimmer, Musikraum und Bibliothek
Zweifellos ist es jedoch die imposante Wohnetage, die das Zentrum des Hauses bildet. Man erreicht sie über eine elegante Wendeltreppe aus Travertin. Hier sind die sonst üblichen geteilten Räume durch einen einzigen, 237 Quadratmeter großen, fließenden Raum ersetzt. Radikal ist zu dieser Zeit nicht nur der Grundriss, auch die Beziehung von Innen und Außen. Der von der Gartenarchitektin Grete Roder-Müller angelegte, über 5000 Quadratmeter große Außenbereich ist stark abschüssig. Durch die über die gesamte Fassade laufende Fensterwand bietet sich ein spektakulärer Blick auf den weiten Rasen, die Baumgruppen und das historische Zentrum von Brünn. Zumal, wenn zwei der Fenster vollelektronisch herunterfahren werden und sich fast lautlos im Boden versenken. Im Boden befindet sich auch die Heizungsanlage, die vom Keller aus gesteuert das Haus in einer halben Stunde beheizen kann und gleichzeitig als Klimaanlage dient.
Der Raum wird unterteilt von einer acht Zentimeter dicken Wand aus gelblichem Onyx, die als Paravent zwischen Bibliothek und Arbeitszimmer auf der einen und dem Wohnzimmer auf der anderen Seite fungiert. Ebenfalls legendär ist die halbrunde Wand aus edlem Makassar-Holz, die den Essbereich mit Brno-Stühlen, fest eingebautem rundem Tisch und Servierwagen umschließt. Sie galt lange als verschollen, wurde aber bei der Restaurierung vom Kunsthistoriker Miroslav Ambroz in der Mensa der Brünner Masaryk-Universität wiederentdeckt. Zusammen mit dem weißen Linoleumfußboden, den Holzeinbauten, Vorhängen aus silbergrauer und schwarzer Seide sind es Mies‘ Möbelentwürfe, auf denen bei der Restaurierung der Fokus lag. Unter Leitung des Brünner Architekten Vladimír Ambroz wurden die Möbel in den Originalmaßen rekonstruiert, darunter der berühmte Barcelona Chair und der Tugendhat-Sessel. In den dreißiger Jahren ergänzte eine Frauenbüste von Wilhelm Lehmbruck die auf einem weißen Wollteppich gegenübergestellten Sessel. Ein extravagantes gestalterisches Element ist der Wintergarten an der Ostseite des Wohnzimmers, der von der Bibliothek betreten wird und über ein rechteckiges Wasserbassin verfügt.
Ohne Kompromisse
Architektur, Interiordesign und technische Ausstattung der Villa Tugendhat sind avantgardistisch. Zugleich entspricht das luxuriöse, ästhetisch verfeinerte Raumprogramm mit Arbeitszimmer, Bibliothek, Wintergarten und Musikraum durchaus den Anforderungen einer großbürgerlichen Villa des ausgehenden 19. Jahrhunderts – so wie man sie in der Nachbarschaft der Villa Tugendhat findet und aus der sie wie ein raumschiffartiger Fremdkörper herausragt. Mies van der Rohe war ein kompromissloser Architekt, der für die Villa Tugendhat auch das kleinste Detail selbst entwarf: von den Türgriffen bis hin zu den Lichtschaltern und Küchenarbeitsflächen. Sein gestalterischer Perfektionismus wird auch an einer kleinen Anekdote deutlich, die Grete Tugendhat einmal erzählt hat: „Als […] mein Mann […] sich dagegen wandte, daß alle Türen vom Boden bis zur Decke reichen sollten, weil sogenannte Fachleute ihm eingeredet hatten, diese Türen würden sich werfen, entgegnete Mies: ,Dann baue ich nicht.‘“ Zum Glück hat es sich Ernst Tugendhat noch anders überlegt.
[Fotos 3, 8 rechts und 9 rechts: Claudia Simone Hoff]
FOTOGRAFIE David idlický
David idlický
Links
Villa Tugendhat, Brünn
www.tugendhat.euRekonstruktion und Restaurierung/ Möbel- und Interiordesign
Vladimír Ambroz, Brünn/ Prag
www.amosdesign.czVilla Tugendhat/ Der Film
tugendhat.pandorafilm.deLudwig Mies van der Rohe/ MoMA
www.moma.orgCzech Tourism
www.czechtourism.comMehr Projekte
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