Projekte

Sakrales Flimmern

Das Taiyuan FAB Cinema von X+Living

Kinos sind heilige Hallen für Filmenthusiasten. Doch wie sollen die Säle in der Post-Pandemie-Zeit überleben? Im chinesischen Taiyuan schmiedet das Innenarchitekturbüro X+Living ungewöhnliche Allianzen: Die flimmernden Räume gehen in eine Buchhandlung mit Café und Spielecke über. Reminiszenzen an den Kirchenbau dürfen nicht fehlen.

von Norman Kietzmann, 09.04.2021

Vor dem Kino war das Buch. Mit jeder gelesenen Seite entstand ein Film – nicht auf der Leinwand, sondern vor den inneren Augen der Leser. Als die Bilder das Laufen erlernten und in prächtigen Sälen vorgeführt wurden, hatte das Buch nicht ausgedient. Doch seine Regentschaft über das Reich der Erzählung musste es plötzlich teilen. Lange sah es sogar aus, als hätte der Film die Bücher uneinholbar überrundet. Doch nun kommt alles ganz anders: Film ist immer noch präsent. Er hat jedoch das Kino verlassen und kommt per Streaming-Dienst oder Online-Mediathek direkt zu uns nach Hause. Die einst stolzen Flimmerpaläste wirken plötzlich seltsam aus der Zeit gefallen: Es sei denn, sie erfinden sich neu.

Mäandernde Landschaft
Wie ausgerechnet das Buch dem Kino zur Rettung eilt, ist im chinesischen Taiyuan zu beobachten. Dort ist die Betreiberkette FAB Cinema mit dem Buchhändler Zhongshuge eine Liaison eingegangen. Auf 4.600 Quadratmetern entstand eine eingeschossige, multimediale Erlebnisfläche, entworfen von Li Xiang und ihrem 2011 in Shanghai gegründeten Innenarchitekturbüro X+Living. Der Zugang zu den Filmsälen erfolgt über das Buchgeschäft, das neben dem Verkauf gedruckter Seiten auch als Empfangssalon, Aufenthaltsraum, Ticketkasse, Café und Kinderspielplatz dient.

 
Diese Vielseitigkeit der Nutzung spiegelt sich in der Innenraumgestaltung. Als Inspiration diente die bergige Landschaft im Umland der 6-Millionen-Stadt, wo Kohlebergbau und Metallurgie bis heute wichtige Wirtschaftszweige sind. So führen die Bücherwände nicht einfach geradewegs nach oben. Sie verjüngen sich wie Stufenpyramiden und dienen so als informelle Sitzgelegenheiten, um in den Werken zu schmökern. An anderer Stelle verbreitern sich die Regale in der Höhe, sodass sie höhlenartige Schlünde bilden.

Gemilderter Kommerz
Sowohl die Decken als auch die Fußböden warten mit schwarz verspiegelten Oberflächen auf. Der Raum wird somit auf seine vierfache Höhe reflektiert. Die atmosphärische Wirkung dieser sorgsam abgedunkelten Lesewelt wird durch Licht gesteigert. An den Unterseiten sämtlicher Regale sind LED-Leisten integriert. Sie illuminieren die farbigen Bücherrücken und zeichnen sich in den verspiegelten Böden und Decken als grafische Zeichen ab. „Die präzisen Konturen der Regale erschaffen einen zeremoniellen Empfangsraum, der die kommerzielle Atmosphäre des Kinos abmildert und eine ungewöhnliche Möglichkeit bietet, die Zeit vor dem Film totzuschlagen“, so die Innenarchitekten.
 
Religiöser Auftakt 
Zu den Vorstellungen geht es durch einen zehn Meter hohen Saal mit schlanken Bögen. Sie sind ebenso wie die Regale im Büchergeschäft aus Holz gefertigt und verfügen über innen liegende Lichtbänder. Die filigranen, aufstrebenden Konstruktionen lassen an die Stützen gotischer Kathedralen denken, wenngleich ihre Bögen am Scheitelpunkt nicht spitz, sondern rund ausformuliert sind. In den beiden Seitenschiffen dieses filmischen Sakralbaus führen Treppen zu einem Mezzanin.

Auf dieser erhöhten Ebene liegen die oberen Eingänge der vier großen Filmsäle, die 91 respektive 70 Zuschauer fassen. Zwei weitere Vorführräume mit 52 und 47 Sitzplätzen liegen außerhalb der Kathedrale. Sie werden ebenerdig durch einen Gang betreten, der direkt im Buchgeschäft mündet – und zwar dort, wo in der Raummitte mehrere Regale pyramidenförmig emporragen. Dieser Ort – Arena genannt – dient für Film-Parties, die von Zeit zu Zeit nach den Vorstellungen ausgerichtet werden. Im Buchladen-Café können die Kinobesucher über den gesehenen Film debattieren und ein abschließendes Getränk zu sich nehmen.
 
Narratives Doppel
Die Welt des Films stand ebenso Pate für die Kinderspielecke, die direkt an den Buchladen anschließt. Auch hier türmen sich die Regale vom Boden bis zur Decke – aufgefüllt mit kindgerechtem Lesestoff. Allerdings sind die Ablagen nicht streng gerastert, sondern als stilisierte Projektoren und Kameras ausformuliert. Auf dem hellblauen Turnhallenfußboden weisen die grafischen Markierungen einer Filmklappe in ein separates Spielzimmer mit der Aufschrift „Story House“. Das Narrative zieht sich als roter Faden durch diese räumliche Verzahnung von Bewegtbild und Buchdruck. Und doch geht die Wirkung weiter: Kino und stationärer Buchhandel sind zwei Typologien, die durch die Digitalisierung unter enormem Druck stehen. Im Schulterschluss kreieren sie ein räumliches Erlebnis, das die Wiederbelebung dieser physischen Orte durchaus beflügeln könnte.

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Links

Projektarchitekten

X+Living

www.xl-muse.com

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