Smarte Blechhütte
Wohnhaus von Office MI-JI Architects im australischen Barwon Heads
Das AB House in der südaustralischen Region Victoria passt sich dem Leben seiner Bewohner*innen an: Es vermag zu wachsen und zu schrumpfen. Auch kann es von wenigen oder vielen Personen bewohnt werden. Wellblech entfaltet hier nicht den Charme eines Schuppens, sondern verleiht den Fassaden Tiefe.
Das Leben verändert sich. Und mit ihm auch der Platz, den wir zum Wohnen benötigen. Gebäude sind oft das genaue Gegenteil davon. Sie verfügen über eine starre Größe und verbleiben so. Dass an dieser Stelle neu gedacht werden kann, zeigt das australische Architekturbüro MI-JI. Gegründet wurde es von Millie Anderson und Jimmy Carter. Letzterer ist nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen, 39. US-Präsidenten, der übrigens auch ein Händchen für ökologisches Bauen hatte und Solarzellen auf dem Dach des Weißen Hauses platzieren ließ. Südwestlich von Melbourne haben Anderson und Carter im Küstenort Barwon Heads ein Wohnhaus für eine Familie realisiert: keine prächtige Villa, dafür ein bodenständiges Gebäude, das mit räumlichen und programmatischen Raffinessen gleichermaßen punktet.
Wandelbarer Bausatz
Ein Keller war ebenso wenig nötig wie ein Fundament. Auch gemauerte Wände sind Fehlanzeige. Die gesamte Konstruktion wird durch außen stehende Stahlrohre über den Boden angehoben, da es in der Gegend immer wieder zu Überschwemmungen kommt. Zuletzt ist der Barwon River im November 2022 mit einem Pegelanstieg von 2,28 Metern über die Ufer getreten. Alle zehn Jahre klettert das Wasser auf bis zu sechs Meter über normal. Das Metallgerüst definiert einen Rahmen, in den verschiedene Flächenelemente gehangen werden. Wellblechwände mit einer breiten und schmalen Amplitude sorgen für Schattenwürfe, die mit dem Sonnenstand changieren. Für einige Wände kommen halbtransparente Kunststoffplatten zum Einsatz, die diffuses Tageslicht ins Innere holen. Mehrere Glastüren und Fenster werden durch Rahmen aus tasmanischer Eiche eingefasst.
Verdrehte Position
Die Architektur soll veränderlich sein: wie ein Organismus, der sich dem Leben der Bewohner*innen und ihrem Platzbedarf flexibel anpasst. „Das Haus ist in Zonen von ständiger und vorübergehender Nutzung unterteilt, von Langzeit, Kurzzeit oder Übergangszeit“, erklärt Jimmy Carter. Der Bau wurde in zwei Körper gegliedert, die jeweils einem quadratischen Grundriss folgen, jedoch leicht zueinander verdreht sind. Die Verbindung stellt ein überdachter Gang her, von dem eine Wäschekammer und ein Besucher-WC abzweigen. Beide definieren zylindrische Baukörper, deren Außenwände mit glatten Metallplatten verkleidet sind und so für diffuse Reflexionen ihrer Umgebung sorgen.
Gang der Kontemplation
Die eine Seite des Gangs ist verglast, die andere wird durch eine weiße Wand begrenzt. Dahinter schließt eine große Terrasse an. Indem der Gang eine leichte Biegung vollzieht, können die Blicke nicht direkt von einem Gebäudeteil zum anderen wandern. Dadurch wird ein Moment der Kontemplation eingebunden: genau wie in japanischen Gärten, wo die Wege nie direkt auf einen Pavillon zuführen, sondern durch Umwege und damit erzwungene Perspektivwechsel zur Einkehr animieren.
Warme Farben
Im Erdgeschoss des größeren, zur Straße ausgerichteten Baukörpers sind Wohnzimmer, Esszimmer und Küche zu einer Einheit verbunden. Eine Kappendecke in einem warmen Terrakotta-Ton zieht die Blicke auf sich. Sie sorgt für eine wohltuende Farbwirkung, die mit den Wandpaneelen aus Birke und Eiche im Wohnbereich korrespondiert. Die Küchenzeile setzt mit einem dunklen Grünton das farbliche Naturthema fort. Der freistehende Küchenblock ist mit Platten aus Aluminium verkleidet, die von Hand angeraut wurden und so einen matten Schimmer in den Raum werfen. Direkt an den Küchenblock schließt ein schlichter Wallnusstisch von Lex Furniture an, der von sechs Exemplaren des Wishbone Chairs umrundet wird – jenem Klassiker, den Hans Wegner 1949 für Carl Hansen & Søn entwarf.
Offenheit und Licht
In der Mitte des Erdgeschosses führt eine schmale Treppe hinauf ins Obergeschoss, wo das Schlafzimmer der Eltern, Bad und WC sowie ein Arbeitszimmer untergebracht sind. Diese Rückseite des Homeoffice schiebt sich wie ein Balkon über eine Aussparung im Boden hinweg. Der Leerraum versorgt nicht nur die Treppe, sondern auch den darunter liegenden Wohnbereich mit zusätzlichem Tageslicht, das durch Oberlichter an den West- und Ostwänden ins Innere des Hauses dringt. So wird die Morgen- und Abendsonne eingefangen, während gleichzeitig der Sichtschutz gegenüber den Nachbar*innen gewahrt bleibt.
Momente der Intimität
Im kleineren Baukörper sind zwei weitere Schlafzimmer platziert. Ein zusätzliches Wohnzimmer wurde ebenso eingerichtet, das einen direkten Zugang zur Terrasse hat, die bis zum Essbereich des Haupthauses reicht. Auch ein separater Teil des Gartens ist von hier aus zugänglich. Kommen die Kinder oder Gäste zu Besuch, können sie sich jederzeit zurückziehen und sind dennoch Teil der Gemeinschaft. Die gleiche Ambivalenz gilt für den Eingangsbereich des Hauses. Werden die Vordertüren zur Seite geklappt, verlängert sich der Innenraum bis auf die Straße hinaus. Die Architektur geht über in die Landschaft. Sie wächst über sich hinaus, vermag aber jederzeit wieder zu schrumpfen. Oder wie es Millie Anderson treffend auf den Punkt bringt: „Es ist ein Haus, das privat sein kann, aber nicht privat sein muss.“
FOTOGRAFIE Ben Hosking Ben Hosking
| Projekt | AB House |
| Typologie | Wohnhaus |
| Ort | Barwon Heads, Victoria, Australien |
| Architektur | Office MI-JI |
| Landschaftsplaner | Bush Landscape Architecture & Art |
| Fertigstellung | 2022 |
| Größe Grundstück | 534 Quadratmeter |
| Wohnfläche innen | 187 Quadratmeter |
| Wohnfläche außen | 74 Quadratmeter |
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