Stoff für Wände
Anne Holtrop gestaltet die neuen Maison-Margiela-Boutiquen
Das Modehaus Maison Margiela kleidet seine Boutiquen in ein neues Gewand. Nach der Premiere in London folgten weitere Dependancen in Paris, Osaka und Shanghai. Die Innenarchitektur von Anne Holtrop interpretiert die Codes des Pariser Labels – und sorgt für eine warme, von Taktilität durchdrungene Atmosphäre im Shopping-Olymp.
Boutiquen leben vom richtigen Gleichgewicht. Je lauter und kraftvoller eine Kollektion, desto ruhiger steuert die architektonische Umgebung dagegen. Auch John Galliano vertraut auf diese Faustregel. Der britische Designer, der bis 2011 für Dior tätig war und 2014 die kreative Leitung von Maison Margiela übernommen hat, ging eine Kooperation mit Anne Holtrop ein. Der niederländische Architekt hat ein Händchen für ruhige Räume, die unverkennbare Referenzen an den Brutalismus zeigen und doch zu Sinnlichkeit und Wärme tendieren. Kurzum: Er beherrscht die Zurückhaltung, ohne in Langeweile zu verfallen.
Den Auftakt machte das Setting für die Artisanal Herbst/Winter 2018 Show während der Haute Couture Modewoche in Paris. Dann folgten die 190-Quadratmeter-Boutique an der Londoner Bruton Street und der 250 Quadratmeter große Verkaufsraum an der Avenue Montaigne in Paris. 2020 und 2021 wurden eine 130-Quadratmeter-Boutique im Einkaufszentrum Shinsaibashi Parco in Osaka und eine 160-Quadratmeter-Dependance im Shanghaier Kaufhaus Reel fertiggestellt.
Raumgreifende Kissen
„In meiner Arbeit beginne ich mit Formen oder Materialien, die oft außerhalb der Architektur entstehen“, sagt Anne Holtrop. Die Wände der Margiela-Boutiquen sind alles andere als glatt und abweisend. Die Putzmasse wurde in textile Formteile eingegossen, die anschließend entfernt wurden. Dennoch ist die Stoffstruktur in den Oberflächen weiterhin lesbar. Vor allem die freistehenden Wände changieren in ihrer Tiefenwirkung. Sie sind von unregelmäßigen Dellen überzogen, verjüngen sich an den Außenseiten und lassen an Kissen denken, die in raumgreifende Dimensionen vergrößert wurden. „Es geht darum, den Geschäften eine menschliche Note zu geben“, ist Anne Holtrop überzeugt.
Orient und Okzident
Der 42-jährige Absolvent der Amsterdamer Architekturakademie hat sein eigenes Büro 2009 in Amsterdam gegründet. Der Hauptsitz liegt heute in Muharraq, Bahrain. Die Verflechtung mit dem Wüstenstaat ist eng. 2015 entwarf er dessen Pavillon für die Weltausstellung in Mailand. 2016 hat er das Land mit dem Beitrag Places of Production, Aluminium auf der Architektur-Biennale in Venedig repräsentiert. Im selben Jahr wurde das Sheik Ebrahim Kulturzentrum in Bahrain fertiggestellt. 2021 sorgte er dort mit einem Kunstdepot für Aufsehen, dessen Fassadenpaneele aus Beton direkt an der Baustelle in Sand gegossen wurden und ein unregelmäßiges Relief mit hoher Tiefenwirkung erzeugten.
Vom Anonymen zum Besonderen
Den Prozess des Machens sichtbar zu machen: Das gilt sowohl für die Mode von Maison Margiela als auch für die Interieurs der neuen Boutiquen. Die Wände sind in der natürlichen Tonalität des Putzes gehalten. Das matte Weiß greift die Farbsignatur des Modehauses auf, dessen Angestellte stets in weißen Arbeitskitteln gekleidet sind. Der zurückhaltende, unbehandelte Putz erlaubt zugleich Rückschlüsse auf den inneren Aufbau der Wände. Auch hier schließt sich der Kreis zu einem Konzept, das Firmengründer Martin Margiela in den späten Achtzigerjahren einführte: Anonymity of the lining lenkt den Fokus auf die Lagen, die normalerweise im Inneren eines Kleidungsstücks verborgen bleiben und nun nach dem Inside-Out-Prinzip nach außen gekehrt werden.
Verzerrte Konturen
Eine weitere Margiela-Technik heißt Décortiqué. Mit ihr werden vor allem Mäntel und Jacken durch zumeist vertikale Schnitte so weit zerlegt, dass lediglich das Skelett der ursprünglichen Kleidungsstücke übrig bleibt. Die Konsequenz daraus ist eine bewusste Unschärfe der Form. Die Dinge wirken vertraut und sind doch verzerrt: eine Methode, die auf die Möblierung der Boutiquen übertragen wurde. Die aus Travertin gefertigten Tische, Sitzbänke und Regale scheren ebenso wie die Spiegel aus dem rechten Winkel aus. Ihre Konturen sind teils konkav, teils konvex gekrümmt. Sie scheinen sich an die Raumgrenzen anzulehnen oder sich um sie herum zu falten. Dieses Maß an Imperfektion beschwört den nonchalanten Charme einer Person herauf, die sich in Eile angezogen und ohne in den Spiegel zu schauen das Haus verlassen hat.
Schimmernde Dunkelheit
Travertin besitzt überaus poröse Oberflächen mit zahlreichen Öffnungen. Normalerweise werden diese mit Harz ausgefüllt, das die Farbe des Steins annimmt. Anne Holtrop ging hier einen anderen Weg und wählte ein weißes Harz aus, das sich deutlich abhebt und so ein gesprenkeltes Muster entsteht lässt. Der vermeintliche Makel wird auf diese Weise in eine neue Qualität übersetzt. Wie ein dunkles Echo auf die Helligkeit der Verkaufsräume wirken die Umkleidekabinen. Deren Wände und Decken sind in einer dunkelgrünen, beinahe schwarz erscheinenden Farbe gestrichen. Ihre hochglänzenden Oberflächen lassen an japanische Lackarbeiten ebenso wie an Chiffon oder schimmernden Latex denken. Sie stimulieren das Interieur mit einer expressiven, zwischen Glamour und Fetisch oszillierenden Note – nur um beim Verlassen der Kabine in einen Raum der Ruhe zurückzukehren. Ergo: Es kommt immer auf das Gleichgewicht an.