Projekte

Tokioter Schlafkapsel

Eine ungewöhnliche Raum-im-Raum-Lösung von Takehiko Suzuki

Wie ein Raumschiff ließ der Architekt Takehiko Suzuki eine kleine Holzkapsel in der industriellen Nüchternheit eines Rohbaus landen. Damit schafft er in dem Tokioter Apartment für eine dreiköpfige Familie nicht nur viel Platz auf wenig Raum, sondern steuert auch Sicht, Licht und Luft.

von Tanja Pabelick, 27.09.2023

Eine durchschnittliche Wohnung in Japan ist 66 Quadratmeter groß. Die frisch renovierte Wohneinheit ist mit ihren 70 Quadratmetern also nah am nationalen Durchschnitt. Aber auch die vielen Nutzungen, die Platz finden mussten, sind typisch japanisch. Das Apartment ist Lebensraum für eine dreiköpfige Familie, gleichzeitig wünschte der Ehemann sich ein vom Wohnbereich abgetrenntes Büro. Der mit der Umgestaltung beauftragte Architekt Takehiko Suzuki lebt selbst in der Hauptstadt Japans und hat den kreativen Umgang mit wenig Raum erprobt. Auf einem Briefmarken-großen Grundstück baute er mit dem House M einst ein dreistöckiges Haus mit 33 Quadratmetern, indem er auf jedem Treppenabsatz mit minimalem Mobiliar einen Raum erschuf. Andere Architekturen klemmte er so zwischen den baulichen Bestand, dass jeder mögliche Quadratzentimeter ausgenutzt wird. In Tokio, einer Stadt mit der höchsten Architektendichte der Welt, sind alle Architekt*innen auch Raumjongleur*innen.

Rückkehr zum Rohbau
Seine gestalterische Grundrissakrobatik bewies Takehiko Suzuki jetzt also nahe der U-Bahn-Station Honancho, die in der Tokioter Präfektur Suginami (an der Grenze zu Shibuya) liegt. Damit in den fünften und damit obersten Stock eines vier­zig Jahre alten Wohnhauses multifunktionale Raumlösungen einziehen konnten, wurde die Wohnung erst einmal komplett entkernt. Die bisherigen Innenausbauten wurden abgerissen, dazu wurden Elektrik, teilweise die Wände und auch die Fußböden konsequent entfernt. Was übrig blieb, war der Rohbau – der tatsächlich nicht weniger als das Adjektiv „roh“ verdient. Die Betonoberflächen zeugen nicht nur vom ursprünglichen Bauprozess, sondern zeigen auch vier Jahrzehnte intensiver Nutzung. Die Ecken sind abgeschlagen, die Flächen teils verwittert und hier und da klaffen Löcher. Geteilt wird das Layout von einer tragenden Wand, die die Fläche in ein Drittel auf der Nordseite und zwei Drittel auf der Südseite unterteilt. Büro und Bad zogen nach Norden, der Wohnbereich liegt im Süden.

Raum im Raum
Zwei Erwachsene und ein Kind, Küche, Essbereich, Wohnzimmer und Spielfläche mussten in einem (noch) offenen Layout untergebracht werden. Die Lösung war ein Holzkubus, der leicht zu einer Seite versetzt im Raum gelandet ist. Er unterteilt nun die Randflächen in drei schmale Flurzonen und einen rechteckigen Raum, der zu den über Eck laufenden Fenstern weist. Der Holzquader dient aber nicht nur der Zonierung, er beherbergt auch Rückzugsräume für alle Bewohner*innen. Ebenerdig ist eine Tatami-Fläche als Schlafzimmer für die Familie untergebracht, auf der über eine Treppe zugänglichen Plattform mit Brüstung findet die kleinste Person des Haushalts eine Fläche, auf der es sich in aller Ruhe spielen lässt – inklusive Ausblick zur Wohnküche. Rund um den eingestellten Block stehen ein Sofa und ein Esstisch, die Küchenzeile sowie einseitig ein raumhohes Regal mit Gelegenheitsarbeitsplatz. Hinter der schmalsten Flurfläche öffnet sich der Durchgang zu Büro und Bad.

Lamellenfenster und Papiertüren
Obwohl es im gesamten Apartment keine klassischen Türen gibt – das Büro verschwindet hinter einem Vorhang und das Bad wird durch ein verschiebbares, mit Papier bezogenes Wandelement geöffnet und geschlossen – schafft der mittig platzierte Schlafraum viele abgeschirmte Zonen und Rückzugsflächen. So wie das Bad als dauerhaft offener oder gelegentlich abgetrennter Raum genutzt werden kann, lassen sich auch die Wände des Schlafzimmers visuell und akustisch zur Wohnung öffnen oder verschließen. Dadurch entsteht ein Nebeneinander von verschiedenen Aktivitäten und Stimmungen sowie von individuellen  Licht-, Wärme- und Schallumgebungen. Beim Holzkubus setzte der Architekt Takehiko Suzuki auf ein typisch japanisches Fensterdesign. Beim Muso-mado werden zwei Lamellengitter voreinander installiert, sodass sich beim Verschieben eines Paneels die Lücken schließen. Die Wände des Schlafzimmers sind mit einem diagonal ausgerichteten Gitter ausgestattet, durch das die Bewohner*innen die Einsicht, aber auch Luft- und Lichtzufuhr steuern können.

Alle zusammen oder gemeinsam allein
„Durch semitransparente Lösungen entsteht eine Umgebung, die zu verschiedenen Situationen des täglichen Lebens passt, wie ,die Sicht versperren, aber den Wind hereinlassen', ,schlafen und gleichzeitig die Anwesenheit der Eltern spüren' oder ,die Beschläge vollständig schließen und sich auf das Lesen konzentrieren'“, erzählt Suzuki. Um den Flur natürlich zu belichten, wurde vor dem Büro der Vorhang installiert und vor dem Bad die transparente Tür. Dazu hat der Gestalter den Kern der Leichtbautür – ein Wabenmaterial – freigelegt und mit Shoji-Papier bezogen. Es erzeugt ein einzigartiges Spiel von Licht und Schatten – und kommuniziert wie die anderen Raumlösungen diskret den Aufenthaltsort der einzelnen Bewohner*innen. Indem Takehiko Suzuki bewusst konventionelle Grundrisslösungen mit mehreren abgeschlossenen Räumen vermied, entstand ein dynamisches Raumlayout, das die Mitglieder der Familie immer wieder auf ihre aktuellen Bedürfnisse anpassen können – und das auch als eine Hommage an die Flexibilität traditioneller japanischer Raumkonzepte zu lesen ist.

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Projektinfos
Projektname Umbau in Honancho
Bauherr privat
Entwurf Takehiko Suzuki Architects
Typologie Umbau
Ort Suginami-ku, Tokio, Japan
Fläche 70 Quadratmeter
Fertigstellung 2023
Links

Entwurf

Takehiko Suzuki Architects

takehikosuzuki.com

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