Venezianischer Cocktail
Verwandlung am Giudecca-Kanal von Dorothée Meilichzon und Cristina Celestino

Gebäude sind in Venedig weit mehr als nur gestapelte Geschossflächen. Sie entfalten mitunter geradezu theatralische Qualitäten. Wie hierbei auch die Hotellerie Impulse setzt, zeigt Il Palazzo Experimental am Giudecca-Kanal: eine Herberge mit 32 Zimmern und Suiten, die die Traditionen der Lagunenstadt mit postmoderner Leichtigkeit verbindet.
Die Bewohner Venedigs haben es wirklich nicht leicht. Heerscharen an Touristen drängen durch die schmalen Gassen der Stadt. Und jedes Jahr werden es wieder ein paar mehr, die sich auf den obligatorischen Weg von der Rialto-Brücke zum Markusplatz machen. Kein Wunder, dass die Venezianer längst in jene Gegenden geflüchtet sind, die etwas abseits der großen Besucherströme liegen. Ganz weit vorne ist hier das Viertel Dorsoduro zwischen dem Peggy Guggenheim Museum im Norden und der Vaporetto-Station Zattere im Süden: eine ruhige Adresse, die dennoch eine schnelle Überfahrt zu allen wichtigen Punkten der Stadt entfernt liegt. Genau hier hat ein neues Boutique-Hotel eröffnet, das mit Massentourismus nichts gemeinsam hat.
Globale Verflechtung
Der Palazzo Cà Molin wurde einst als Stadtpalast einer venezianischen Adelsfamilie direkt am Giudecca-Kanal erbaut. Später diente er als Hauptquartier der Rederei Adriatica, die für ihre Kreuzfahrten nach Griechenland und Ägypten bekannt war und 2004 in Konkurs ging. Danach stand der Bau erst einmal leer, auch wenn die Lettern des Unternehmens bis heute an der Fassade prangen. Die Verwandlung in ein Hotel oblag der französischen Innenarchitektin Dorothée Meilichzon, die für angesagte Adressen ein Händchen hat. In Paris hat sie mit dem Hotel Grand Pigalle eine Partylocation mit Wohlfühlfaktor entworfen. In London verantwortete sie die trendigen Bar-Restaurants Fish Club und Beef Club. Und in New York realisierte sie den Experimental Cocktail Club an der Lower Eastside. Die Betreiber dieser Bar sind ebenfalls als Hoteliers tätig und haben nun in Venedig ihre erste Dependance eröffnet: Il Palazzo Experimental.
Pluralität der Formen
Die baulichen Traditionen der Lagunenstadt hat Dorothée Meilichzon mit einem Augenzwinkern in die Gegenwart transferiert. Die offen liegenden Balken, die Terrazzoböden, die gotischen Fenster und schweren Holztüren haben auch die Zwischennutzung als Büroadresse überstanden und geben den Räumen eine starke Identität. Hinzu kommen weitere Stilelemente mit lokalem Bezug, die mit postmoderner Leichtigkeit interpretiert werden. Da ist das allgegenwärtige Motiv der Rundbögen, die Durchgänge, Türen, Spiegel und die gepolsterten Kopfenden der Betten ebenso akzentuieren wie die Leuchten des venezianischen Gestalters Luciano Vistosi aus den Achtzigerjahren. Die gedrechselten Bettrahmen werden von miniaturisierten Kegeln und Pyramiden gekrönt, deren Pastellfarben mit den Wänden korrespondieren. Von den Pali da Casada – den in Venedig allgegenwärtigen Anlegemaster der Gondeln – ist das typische Streifenmuster auf Nachttischsockel, Sesselbezüge sowie die bemalten Zimmertüren übertragen worden.
Kulinarisches Theater
Eine wichtige Rolle im Palazzo Experimental spielt die Gastronomie, die sich an Übernachtungsgäste wie Locals gleichermaßen richtet. Das Restaurant Adriatica bespielt einen großen Raum im Erdgeschoss und kann über einen eigenen Eingang vom Giudecca-Kanal betreten werden. Die Farben changieren zwischen weiß, rosa, hellblau, blassgrün und bordeaux. Die Blicke zieht ein von Carlo Scarpa inspirierter Terrazzoboden auf sich, bei dem die Marmorsegmente nicht mehr in bunten Farben wild durcheinander geworfen sind, sondern als großformatige, graue Rechtecke in präzisen Reihen liegen.
Postmoderne Züge offenbaren die Rückenlehnen der samtbezogenen Sitznischen, bei denen zwei Halbkreise zu einem Doppelhügel verbunden wurden. Dazu gesellen sich Locus-Solos-Stühle von Gae Aulenti sowie flache Sofas mit gepolsterten Sitzflächen und hölzernen Lehnen, die an Lits Bateaux erinnern – von Booten inspirierte Betten aus der Empire-Zeit im frühen 19. Jahrhundert. Frühstück, Mittagessen und Dinner werden sowohl im Restaurant als auch im hoteleigenen Garten serviert, der zum rückseitig gelegenen Kanal Rio Del Ognissanti führt und über einen eigenen Anlegesteg verfügt.
Sorbet-Räume
In die Bar gelangt man von der Lobby aus durch eine Spiegeltür. Zum Giudecca-Kanal öffnet sich ein weiterer Eingang. Die Gestaltung dieses Ortes hat Dorothée Meilichzon der befreundeten Mailänder Architektin Cristina Celestino übertragen. Für den Bartresen wurden drei verschiedene Marmorsorten verwendet – ein Verweis auf die farbige Steinmixtur an der Basilica San Marco. Auch hier lassen die pastellenen Farben der Möbel und Wände an köstliche Sorbet-Sorten denken. Die ringförmigen Messingleuchten über der Bar hat Celestino für den toskanischen Hersteller Esperia entworfen, die gepolsterten Hocker für ihre eigene Möbellinie Attico Design, den gestreiften Teppich für die Möbelmarke Besana. Die Bar verströmt eine warme, intime Atmosphäre. Sollte es dennoch zu hektisch werden, können Gäste und Besucher ihre Drinks auch auf einer kleinen Dachterrasse einnehmen – ungestört mit weitem Blick über die Kuppeln der Lagunenstadt.
FOTOGRAFIE Karel Balas
Karel Balas
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