Ambiente 2017: (K)Eine rosarote Brille
Was die Branche antreibt und was en vogue ist auf dem gedeckten Tisch, erfahren Sie in unserem Messefazit.
Produkte, Produkte, Produkte! Fünf Tage lang wusste man in Frankfurt nicht, wohin man zuerst schauen sollte. 27 überbordende Hallen, 308.000 Quadratmeter Fläche, 4.454 Aussteller, 142.000 Besucher. Was die Branche antreibt und was en vogue ist auf dem gedeckten Tisch, erfahren Sie in unserem Messefazit.
Manchmal sah es in den letzten Jahren so aus, als könne die Pariser Messe Maison&Objet der zuweilen etwas behäbig wirkenden Ambiente vor allem in Sachen Design den Rang ablaufen. Doch nach fünf Tagen Messetrubel in Frankfurt steht fest: Die Ambiente ist zurück! Mit beinahe bombastischen Standinszenierungen, einer pastellfarbenen Produktwolke und lauter schönen Dingen aus dem Messebereich Dining. Zwar waren einige designaffine Hersteller wie Menu, Zens und Bomma nicht mehr in Frankfurt dabei, doch andere sind reuig, aber voller positiver Erwartungen zurückgekehrt, Fürstenberg und Hering Berlin beispielsweise. Stefanie Herings Fazit nach dem ersten Tag: „Es läuft extrem gut.“ Soll heißen: Paris ist ja ganz schön, aber das (Händler-)Geschäft wird in Frankfurt gemacht.
Wasser abgraben
Die Branche rund um Glas, Porzellan, Keramik (GPK) hat es – das ist kein Geheimnis – schwer. Zum einen, weil sich seit einigen Jahren vor allem skandinavische Hersteller aus dem mittleren Preissegment wie Ferm Living, Greengate und House Doctor extrem erfolgreich im Markt positioniert haben. Sie nehmen den etablierten Herstellern Marktanteile weg, vor allem mit cleverem Marketing, das die Produkte in einer glattgebügelten Heile-(Wohn-)Welt im mehrheitsfähigen Scandi-Chic verortet. Und: Die Produkte selbst werden in Ländern (hand-)gefertigt, wo das Lohnniveau relativ niedrig, die fachliche Kompetenz aber hoch ist: Keramik in Portugal, Glas in Polen oder Tschechien. Nur noch das Design – vielleicht sollte man besser sagen die Designstrategie – kommt von den Labels selbst. So spart man sich kostenintensive eigene Produktionsstätten, muss keine Verantwortung für gutbezahlte Fachkräfte übernehmen, ist insgesamt flexibler und kann schneller auf Trends reagieren. Eine H&M- und Zara-isierung der Wohn- und Küchenwelt sozusagen, wenn auch in kleinerem Maßstab.
Boden gewinnen
Kein Wunder, dass in Deutschland produzierende Unternehmen im höheren Segment unter Druck geraten. Sie müssen sich etwas einfallen lassen, wenn es kein Massensterben wie in der deutschen Porzellanindustrie geben soll. Die Lösung bei fast allen: die fleißige Expansion in die Lifestyle-Welt, auf konstant hohem Preisniveau. Das war exemplarisch und ziemlich überzeugend bei Rosenthal zu sehen. Der Hersteller besinnt sich seit einiger Zeit zurück auf seine Wurzeln, als Philip Rosenthal in den Sechzigern erstmals eine Möbelkollektion präsentierte. Am üppig dekorierten Messestand zeigte man das neue Sofa von Sebastian Herkner, eine Neuauflage des klotzigen Mangiarotti-Ledersessels und eine Kollektion von Glashängeleuchten. In einer bedufteten und mit Vogelstimmen versetzten Flower Box hatte der Hersteller aus Selb effektvoll die neuen Vasenkollektionen platziert: extravagante Stücke von Sebastian Herkner, Helmi Remes und Office for Product Design. Die sind handgefertigt und kosten deshalb schon mal 350 Euro – pro Stück.
Strategiewandler
Doch sind Konsumenten durchaus bereit, für Objekte mit Unikatcharakter mehr Geld auszugeben als für klassische Tableware wie Gläser, Teller und Tassen, die es anderswo ähnlich und günstiger gibt. Das zeigt auch das Beispiel Bomma. Der tschechische Glashersteller hat sein Geschäft neu aufgestellt, wie auf der Maison&Objet in Paris zu sehen war: Hier stellte Bomma ausschließlich Leuchten von bekannten Designern vor und gar keine klassische Tableware mehr. „Unsere Leuchten sind extrem erfolgreich und verkaufen sich viel besser als die Gläser“, erklärt die Marketingleiterin die neue Unternehmensstrategie. Kurzerhand hat man deshalb den böhmischen Hersteller Rückl Crystal gekauft, wo nun die Trinkgläser und Schalen hergestellt werden. Logische Konsequenz der Neupositionierung: Statt Bomma war nun Rückl Crystal in Frankfurt am Start. Bei großen Konzernen kann es auch schon mal passieren, dass sich die verschiedenen Marken gegenseitig ins Gehege kommen. Da ist dann eine klare Abgrenzung gefragt. Was das bedeutet, konnte man bei Arzberg sehen. Um sich eindeutiger von der anderen Sambonet-Paderno-Konzernmarke Thomas abzugrenzen, positioniert man sich jetzt „femininer, verspielter und unkomplizierter“, sagt Robert Suk, Product Development Manager von Rosenthal. Wie diese Idee umgesetzt wird, zeigt ein neues Produkt: Joyn.
Hygge rein, Cocooning raus
Joyn vereint gleich mehrere Trends, die vor allen in den designaffinen Hallen 4.0, 4.1 und 11.0 auf der Messe zu sehen waren: Mix & Match, haptische, interessante Oberflächen, Handmade-Anmutung, Pastelltöne. Kurz: Scandi-Chic mit einem Schuss Rustikalität. Statt Cocooning heißt das Schlagwort der Stunde nun Hygge, was im Dänischen so viel wie Gemütlichkeit, Geborgenheit bedeutet. Designer Robin Levien kombiniert bei den multifunktionalen Stücken Porzellan und Eichenholz, mischt Weiß mit pudrigem Rosa und hellem Grau. Erstaunlich ist die Oberfläche des Porzellans: Das Rillenmuster – ähnliche Dekore waren übrigens bei vielen Herstellern zu sehen – ist nicht so dick wie es beim ersten Hinsehen erscheint. Nur wenige Porzellanhersteller seien überhaupt in der Lage, nur 0,2 Millimeter hohe Stege herzustellen, die fein nach oben ausliefen, erzählte der englische Designer. Und: Er habe zwei Versuche gebraucht, der erste Entwurf sei Arzberg zu fein gewesen. Levien ist übrigens einer der wenigen Designer, die fast ausschließlich mit dem Material Porzellan arbeiten, für große Hersteller wie Thomas, Villeroy & Boch, Dansk und Dibbern.
Pastellschwelger
Doch zurück zum Rosarot. Vielleicht ist die Pantone-Farbe von 2016 – Rose Quartz und Serenity – Schuld oder auch nur die Sehnsucht nach friedvoller Heimeligkeit: Überall auf der Ambiente waren Produkte, wenn schon nicht in Rosa, dann in andere Pastelltöne getaucht. Den Vogel abgeschossen hat sicherlich Stelton. Manch einer wird vielleicht entsetzt aufschreien oder es gar für ein Sakrileg halten: Die Dänen haben zum 50. Geburtstag der Cylinda Line den Arne-Jacobsen-Klassiker in eine hellblaue und rosafarbene Emailleschicht gesteckt. Und auch die Stelton-Isolierkanne des im letzten Jahr verstorbenen dänischen Designers Erik Magnussen feiert in diesem Jahr ein Fest. Zum 40. Geburtstag gibt es sie in Light Grey, Dusty Green und Chalk. Wem das zu viel ist an Pastell, für den gibt es Dekore mit Anklängen von Hellblau und Rosa, elegant kombiniert mit echtem Gold wie bei Fürstenberg (Shifting Colors von Alfredo Häberli) oder effektvoll flächig gespiegelt wie bei Kahla (Colour Shades von Inga Israel).
Marken machen
Wer glaubt, eine rosarote Brille würde genügen im Haifischbecken der Branche, der irrt. Denn vor allem eines hat die Ambiente gezeigt: Marketing, eine durchdachte Strategie, ist für alle Unternehmen überlebenswichtig. Wer planlos im großen Teich der Hersteller und Produkte schwimmt, wird untergehen. Das haben längst viele große, aber auch kleinere Hersteller erkannt. So setzt die niedersächsische Porzellanmanufaktur Fürstenberg auf die Marketing- und Designkünste von Mike Meiré, der gleich auch den Messestand gestaltet hat, während Ritzenhoff nach Jahren der Abstinenz wieder mit Sieger Design zusammenarbeitet. Keine schlechte Idee, denn man trumpfte gleich mit zwei News auf: dem neuen Label Livø und einem Relaunch der legendären Glasserien von Sieger Design. Während die sehr skandinavisch wirkenden Produkte von Livø bis auf die Glasvasenkollektion inhouse bei Ritzenhoff entstanden sind, stammt das Corporate Design von Sieger Design – einschließlich Standgestaltung und Packaging. In Rosétönen und mit Verläufen, übrigens.
Kühler kommt die neue Glaskollektion daher, die zum 25. Geburtstag der damals bahnbrechenden Sieger-Design-Serie entstanden ist. Christian Sieger, Marken- und Marketingfachmann, hatte die Idee zur Jubiläumskollektion zusammen mit seinem Bruder Michael Sieger, dem Designer. In einem separaten Raum am Messestand sah es aus wie in einer noblen Parfümerie. In den Regalen standen fein geordnet, schlicht beschriftete Kartons, die in ihrer Eleganz den Verpackungen teurer Kosmetikmarken ähnelten. Auf Tischen waren die neuen Champagner-, Bier- und Milchgläser aufgestellt. Christian Sieger konnte Designgrößen wie Piero Lissoni, Studio Job, Naoto Fukasawa und Neri & Hu davon überzeugen, Dekore zu entwerfen, was gar nicht so einfach war, wie er berichtete. Nun, ihm ist ein echter Coup gelungen. Und auch wenn Studio Job schwarze Skelette aufs Milchglas gebracht hat – ein schlechtes Omen ist das hoffentlich nicht!
Anfang gut, alles gut
Marketing kann viel, ist aber ohne gute Produkte nichts. Auch wenn viele Ambiente-Aussteller auf einem guten Weg sind und die GPK- und Hausrat-Branche laut einer von der Messe Frankfurt in Auftrag gegebenen Studie (Management-Report: Konsumausgaben in Europa) mit einem fünfprozentigem Wachstum gerade eine kleine Renaissance erlebt, doppeln sich zuweilen die Angebote. Im Meer der Ähnlichkeiten (Formen, Farben, Materialien) und Me too-Produkte können am Standort Deutschland produzierende Hersteller eigentlich nur verlieren. Sich zurückbesinnen auf das eigene Know-how (wie es Meissen gerade tut), neue Ideen wagen und auch mal über den Tellerrand schauen – das wünschen wir uns!
Zwei Bildergalerien mit über 100 Produktneuheiten und Impressionen von der Messe finden Sie in unserem Best of Ambiente 2017.
FOTOGRAFIE Messe Frankfurt
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